Raserei im Nudeltopp

■ Hundert Jahre Berliner Radsportgeschichte im Heimatmuseum Treptow

„Das Weltbild zu Rad“, formulierte der Kulturphilosoph Michael Haberlandt, „ist ein anderes als im Auge des Ruhenden, der sich in jedem Blick sättigen mag. Ich möchte glauben, daß die Momentphotographie des Radfahrerauges der modernen Art, dem nervösen Geist der Zeit völlig entspricht.“ Solcher Nervosität mußte zunächst einmal Einhalt geboten werden. Für die ersten Radfahrer wurden eigens Velodrome eingerichtet, nicht zu Renn-, sondern zu Übungszwecken. Ehe die Geschwindigkeitsneurotiker auf die Straße gelassen werden konnten, sollten sie ordentlich Fahrstunden absolvieren. Die Radrennbahn war also keine Erfindung von Sportsfreunden hoch zu Rad, sondern eine von verängstigten Ordnungshütern.

Die Geschichte eines Velodroms kann man derzeit im Heimatmuseum Treptow besichtigen. Die Treptower Rennpiste wurde bereits 1898 als kleine Lehmbahn eröffnet und einige Jahre später entscheidend erweitert: Die Firma Boswan & Knauer hatte der Bahn die gefürchteten Steilkurven mit einem Neigungswinkel von 50 Grad und 5 Minuten verpaßt. Die Mindestgeschwindigkeit, mit der diese Kurven durchfahren werden mußten, lag bei 25 km/h, die Höchstgeschwindigkeit bei 110 km/h. Daß es häufig zu Unfällen kam, manchmal sogar zu tödlichen, gehört heute zum gepflegten Mythos des Bahnsports, der binnen kurzer Zeit zu einem beliebten Volkssport wurde.

Der Radsport förderte in erheblichem Maße auch die Fahrradindustrie. Um 1903 existierten in Deutschland bereits mehr als eine Million Räder, von denen etwa 30 Prozent Arbeitern gehörten. Diese waren auch die emphatischen Anhänger des Sports und nicht zuletzt dessen Akteure.

Die Treptower Ausstellung zeigt ein Stück Berliner Rennbahngeschichte in recht großen Schritten. Wie jede Sportstättengeschichte ist auch die des Treptower Nudeltopps nicht ohne Selbstbehauptungspathos. Während andere Berliner Bahnen im 1. Weltkrieg geschlossen bleiben, finden im Nudeltopp weiterhin Rennen statt. 1916 verbietet die Oberste Heeresleitung die Benutzung von Fahrrädern für Vergnügungs- und Sportzwecke. Für den Nudeltopp gibt es eine Ausnahme und so finden 26 Renntage statt.

Zehn Jahre später ist es mit der Herrlichkeit vorbei. Die Stadt Berlin kündigte nach Anwohnerprotesten den Pachtvertrag. Die Massen waren damals eben nicht so leicht zu befrieden wie heutige Fußballfans. Harry Nutt

Heimatmuseum Treptow, bis 28.2.98, Do bis So 14–18 Uhr, Sterndamm 102, Treptow