Unbürokratisch Wählen im „Herz As“

Hamburger Obdachlose bekommen ein eigenes Wahllokal. Aber nur wenige gehen hin  ■ Von Judith Weber

Das bißchen Vergangenheit läßt sich in Taschen stopfen und mitschleppen. Abends auspacken und morgens wieder rein. Und jeden Tag neu überlegen: wo essen und schlafen? Es gibt drängendere Fragen als die, wer in den kommenden Jahren die Stadt regiert.

„Die meisten Wohnungslosen sind so mit ihrem eigenen Leben beschäftigt, daß für politisches Bewußtsein kein Platz mehr ist“, sagt Verena Schmidt von der Zeitschrift Hinz und Kunzt. Undenkbar, Behörden abzuklappern und Briefwahl-Anträge auszufüllen. Deshalb bekommen Hamburgs Obdachlose am 21. September zum ersten Mal ein eigenes Wahllokal, die Tagesstätte „Herz As“im Bezirk Mitte. Dort können sie noch bis heute abend ihre Wahlkarten ausfüllen und sich so zur Wahl anmelden. Das geht auch in etwa 80 Suppenküchen, Schlafräumen oder Drogenberatungsstellen.

Unbürokratisches Wahlkarten- Geben, wie es die Stadt vor rund vier Wochen versprochen hatte. Die Obdachlosen müssen lediglich beweisen, daß sie seit drei Monaten in Hamburg leben. „Bundesweit einmalig“, lobt sich die Sozialbehörde. Die Stimmlust der Wohnungslosen hat sie damit jedoch kaum gehoben. Bei OASE, der Selbsthilfegruppe der Wohnungslosen, bleiben die Werbeplakate an den Fenstern meist ungelesen. Im künftigen Wahllokal „Herz As“haben bisher nur sieben Menschen ihre Karten ausgefüllt; sieben von etwa 100 Obdachlosen, die täglich in die Aufenthaltsstätte kommen. Auch bei Hinz und Kunzt wollte lediglich ein Dutzend Menschen mitstimmen. „Einige hätten sich gern beteiligt, hatten aber keinen Personalausweis“, meint Redakteurin Verena Schmidt.

Trotzdem: Nicht das Kreuz auf dem Stimmzettel ist wichtig, sondern das Papier selbst. „Die Leute müssen das Recht haben, zu wählen“, sagt Manfred von OASE, der Selbsthilfegruppe der Obdachlosen. „Es geht darum, ihnen zu zeigen: Ihr seid genauso Bürger wie alle anderen.“Darum, ein Stück wegzurücken vom Anders-Sein.

Platte machen, das bedeutete 1993 noch, nicht zur Wahl gebeten zu werden. Denn ohne Wohnung keine Adresse, und ohne die keine Benachrichtigung. Nur 15 der etwa 1200 Hamburger ohne festen Wohnsitz stimmten per Briefwahl ab – rund 1,2 Prozent.

Dennoch: Zum Urnengang braucht man mehr als eine Anschrift. „Wer wählt, hat schon einen Schritt zurück ins normale Leben gemacht“, sagt Manfred von OASE. „Man guckt über den eigenen Tellerrand. Und wenn man in seinem Leben nichts geordnet hat, warum sollte man dann für den Staat etwas ordnen?“