Schlittenfahrt in die Vision

■ Saisonstart am Schauspielhaus mit zwiespältigem „Peer Gynt“

Peer Gynt ist ein Aussätziger im wahrsten Sinne des Wortes: Seine Sätze lassen ihn außen stehen. Sie tragen ihn hinaus aus der beengenden Welt seines Heimatdorfes im norwegischen Gudbrandstal und plazieren ihn außerhalb der engstirnigen Gemeinschaft. Ein Lügner sei er, sagt die Mutter zu seinen Erzählungen, ein Angeber, besoffenes Schwein, meinen die Dörfler. Dabei beharrt Gynt fest darauf: „Ich sage die Wahrheit. Wort für Wort.“Aber die Wahrheit des Traumes und die Wahrhaftigkeit der Phantasie interessieren niemanden im Gudbrandstal. Da muß Gynt außer sich geraten: Auf zur Schlittenfahrt über die blanke Schädeldecke.

Henrik Ibsen schrieb Peer Gynt 1867 als dramatisches Gedicht; an eine Aufführung des Raum und Zeit durchwandernden Stoffes hatte er ursprünglich gar nicht gedacht. Zur Eröffnung der Theatersaison am Schauspielhaus hat sich Matthias Hartmann der phantastischen fünf Akte angenommen, womit Peer Gynt zum erstenmal seit 45 Jahren auf dem Programm des Hauses steht. Am Thalia Theater war das Stück 1984 gezeigt worden, und zwar, in der Inszenierungsgeschichte des Stücks keine Seltenheit, an zwei Abenden. Fast wünscht man, Hartmann hätte sich ebenfalls zur Teilung entschieden. Nicht, weil die dreieinhalbstündige Fassung des Stücks von Wilfried Schulz nach der Übersetzung von Christian Morgenstern zu lang wäre. Aber weil man dann getrost raten könnte, den ersten Teil unbedingt anzugucken und am zweiten Abend, eine frühe Herbstgrippe vortäuschend, im Bett zu bleiben.

Vielschichtig, dramatisch, amüsant beginnt der Abend. Michael Maertens ist ein grandioser junger Gynt, dessen Phantasien ebenso verheißungsvoll wie bedrohlich sind und durch den Fanatismus und die Dummheit der Dörfler stets relativiert werden. Eine ausgeklügelte Lichtregie und der gelungene Bühnenraum von Momme Röhrbein – ein abschüssiger Quader, wie ein New Yorker Basketballplatz umgeben von einer Holzwand mit Zaun, wohinter die Visionen leuchten – lassen Fiktion und Wirklichkeit vexierbildartig ineinanderspringen. Peer ist ein hypermotorischer, visionärer Trotzkopf, der in der Trollwelt Scheiße frißt und von einer Hexe mit Gummisauger von hinten genommen wird. Seine Reise zum Objekt seiner Sehnsucht, der holden Solveig (Bettina Engelhart), wird von Hartmann und dem Ensemble mit bestechendem Sinn für Tragikomik gezeigt.

Nach der Pause jedoch ist aller Zauber verflogen. Übergangslos sehen wir Gynt als modernen Geschäftsmann in weiter Welt , visualisiert durch eine Anhäufung grauenhafter Klischees. Statt Selbstzweifel plagen Gynt Neurosen, vor unsern Augen verkalkt er, und zu allem Überfluß kommt die Moral: Sein Leben, erkennt der Abenteurer inner- und außerhalb des Kopfes, habe er verspielt. Rein ist allein die wartende Frau als Lichtgestalt: „Mutter, Mädchen, Frau.“Darauf reimt sich: Au. Christiane Kühl