Ritter der Stammtischrunde

■ Die zünftige Tradition der wandernden Gesellen droht auszusterben - die Angst vor dem Risiko sind groß / In Bremen finden Tibbelbrüder keine Arbeit

„Die haben uns vorn Kopf geschissen, das kriegen die wieder“, schimpft Steinmetz Bruno Kramer (60) vor der geschlossenen Gesellenherberge „Zur Wehrbrücke“in Bremen Hastedt. Auch Kamerad Reinhold Piegursch (63) wirkt hilflos. Heute ist eigentlich Krugabend der „Rechtschaffenden Fremden“. Das ist die älteste der vier offiziellen Zünfte wandernder Gesellen des Bauhandwerkes in Deutschland. „Der Krugabend ist verbindlicher Treff für alle Zunftgesellen der Region“, ärgert sich Altgeselle Reinhold Piegursch (63). Der Ärger der beiden Handwerker wäre vor Jahren als handfeste Drohung zu verstehen gewesen.

Während die alten Herren in zünftiger Kluft dem entgangenen feuchtfröhlichen Kameradschaftsabend nachtrauern, geht es knapp 60 Kilometer weiter nordöstlich, in Brake, hoch her. „Faß schmoren“nennen die Rechtschaffenden das öffentlich vorgeschriebene Besäufnis, wenn ein „Fremder“, das ist ein Geselle auf der Walz, „einheimisch“geschrieben wird. Damit ist seine drei Jahre und einen Tag dauernde Wanderschaft beendet. Mindestens ein Jahr muß davon in Deutschland getippelt werden.

30 Gesellen sind angereist und Brake wankt. Es wird geklatscht und geschallert. Klatschen ist dem kindlichen Abklatschspiel nicht unähnlich. Nach altem Brauch donnern Handwerkerhände gegeneinander, ein Test, wie schmerzunempfindlich der Partner ist. Klatschen wird erst durch schallern – singen – schön. Wer dahinter das gesittete Aneinanderreihen harmonisch gesetzter Töne vermutet, liegt etwas daneben. „Wir brüllen wie wildgewordene Löwen“, schmunzelt Altgeselle Bruno Kramer. Als trutzige Männerbündler – Frauen haben grundsätzlich keinen Zugang zu den Brüderschaften – sind ihre Lieder oft ganz schön schweinisch. „Wir haben mal innerhalb einer Viertelstunde eine prallvolle Kneipe leer geschallert“, erklärt uns Fliesenleger Piegursch bübisch.

Die Kerls in den schweren Cordanzügen toben sich auf der Walz seit eh und je so richtig aus. Gespart wird nicht. Mancher Tariflohn versickert in einer Nacht auf Hamburgs Reeperbahn. Die Alten schwärmen von legendären Straßenschlachten in Genf oder Brüssel, die sich rivalisierende Zünfte lieferten. „Wir mußten schon mal eine Herberge auf den Bolzen setzen“, meint der rechtschaffende Piegursch, soll heißen, eine Kneipe wurde demoliert. Das Faustrecht gilt noch heute. Zu Mißverständnissen kommt es schnell. Die einzelnen Zunftmitglieder sind zwar gewerkschaftlich orientiert, aber Politik gilt als tabu. Das fällt vor allen Dingen den „Freiheitsbrüdern“schwer. Sie sind aus der kommunistischen Arbeiterbewegung entstanden. Nach einigen Bieren und heißen Diskussionen ersetzten manchmal derbe Faustschläge fein formulierte Argumente.

Allgemeines Verständigungsmittel zwischen wandernden Gesellen ist das Bier. Ehrensache: wer Geld hat, gibt einen aus. Wer keinen ausgeben will, dem nageln Zimmerleute der Zunft der „Rolandsbrüder“halt das Ohrläppchen an die Theke. „Das macht spendierfreudig“, meint Rolandsbruder Stefan Raudfuß aus dem oldenburgischen Augustfehn.

30 Gesellen sind zum „Faß schmoren“nach Brake gekommen. „Schmalmachen“heißt das für die Wanderer, das bedeutet essen und trinken auf lau. Andere Formen des zünftigen Broterwerbes sind „fechten“(betteln) und als letzte Lösung „schaniegeln“(arbeiten). Die meisten Faßschmorer in Brake werden am nächsten Tag in ihre Pässe schauen müssen, um sich an ihre Namen zu erinnern. Auffällig sind die vielen älteren, einheimischen Gesellen. „In den vergangenen Jahren hatte unsere Zunft der Rechtschaffenden zwischen 150 und 180 Gesellen pro Jahr auf der Walz“, weiß Hermann Döhle, seit 19 Jahren Herbergsvater der Bremer Gesellenherberge „Zur Wehrbrücke“. „Dieses Jahr sind es gerade mal 90 Wandernde.“

Eigentlich soll die Wanderschaft nach jahrhundertealtem Brauch nach abgeschlossener Lehre der Weiterbildung dienen. Aber Walter Theurich, Altgeselle der Zunft der „Freien Vogtländer“in Altwarmbüchen bei Hannover, ist ehrlich: „Studenten können erstmal rumschluren. Auch Arbeiter sollen sich die Hörner abstoßen dürfen.“

Das wollen heute immer weniger. Angst um den Arbeitsplatz, mangelnde Risikobereitschaft, Konsumorientierung und schließlich die Freundin sind Gründen zu Hause im Warmen zu bleiben, statt durch Wind und Wetter zu tippeln und im Heuschober zu übernachten. Nach Abschluß der Lehre sind die Jungesellen heute meist über zwanzig, zu alt, findet Reinhold Piegursch. Er ging 1951 mit 17 auf die Walz. „Mein Vater hat mir mein Geld abgenommen und gesagt, dann fang schon mal an zu fechten, also zu betteln“, erzählt der Fliesenleger. Früher bekam ein Tippelbruder drei Mark bei jeder Handwerkskammer und zwei Mark auf Gewerkschaftsbüros. Bäcker rechneten es sich zur Ehre an, Wandergesellen mit Brot auszustatten. „Es kommt schon vor, daß ein Bäcker heute einen Gesellen wieder wegschickt. Und die richtigen Arbeiterkneipen, in denen man sich so richtig durchtrinken konnte, gibt es heute auch nicht mehr“, meint Pirgursch.

Trotzdem juckt es die Alten:„Ich würde auf der Stelle nach Dresden tippeln“, schwärmt der Bremer Steinmetz Kramer. „Da ist beim Aufbau der Frauenkirche echtes Geld zu verdienen.“Seine Familie und seine Staublunge halten den Rentner ab. Die Kameraden treffen sich immer häufiger auf Begräbnissen. In Bremen ist sowieso nichts zu holen. „Das Rathaus müßte dringend renoviert werden,“sinniert Kramer, „aber die haben kein Geld.“Dieses Jahr hat noch kein Tippelbruder Arbeit in Bremen gefunden. Thomas Schumacher