Kennen Sie Levedag?

■ Kunstsammlungen Böttcherstraße stellen Bauhausschüler Fritz Levedag vor

In der Kunstgeschichte ist es nicht anders als in der Leichtathletik. Nur wer die Ziellinie als erster überquert, bleibt im kollektiven Gedächtnis verhaftet. Schon der zweite Platz ist wertlos, und sein Eroberer fällt dem Vergessen anheim. Oder kennen Sie etwa Fritz Levedag?

Der Münsteraner ist Epigone. Eigentlich aber war er Konditormeister. Seine Inspirationsquelle Kandinsky hingegen schaffte es bis zum Juristen, war Teil der progressiven Künstlerzirkel seiner Zeit und involviert in die brandneuen Denkbewegungen. Fritz Levedag hatte nicht dieses Glück. Er wurde von der Zeitgeschichte ins Abseits gestellt: Während beider Weltkriege war er zwangsweise mit Kriegführen beschäftigt. Aber auch dem materiellen Überlebenskampf mußte er sich aussetzen, zumindest bis zu seiner Heirat mit einer Gräfin.

1911 formulierte Kandinsky sein ästhetisches Konzept. „Über das Geistige in der Kunst“bildet das Fundament jeder vom Naturalismus befreiten Kunst, also auch der abstrakten oder „absoluten“Malerei mit all ihren weltverbessernden Ambitionen. Levedag dagegen mühte sich bis zu seinem Tod 1951 ab, eine Systematik der bildnerischen Grammatik zu entwickeln. Zu einem Ende kam er nie. Es galt das Formeninventar vom Kreis über den Kegel und Vieleck bis zu Gitterkreuzen, Verzweigungen und Schlaufen soweit durchzudeklinieren, bis ihre psychologische Wirkungsweise bis ins letzte geklärt wäre; es galt die Wechselwirkung von Form und Farbe zu begreifen: Was passiert, wenn sich ein helles Dreieck über einen dunklen Kreis schiebt, wenn eine transparente Schlangenlinie um einen massiven Kreis wirbelt etc.?

Noch 1947 strampelt er sich ab um eine philosophische Standortbestimmung der abstrakten Malerei. In gut Hegelscher Dreischritt-Spiral-Dialektik wird sie als logische, unvermeidbare Folge alles bisher Dagewesenen erklärt. „Nachdem die Kunst von 1100-1900 über Anfang Entwicklung – Höchstzeit – Abstieg und Verfall eine ihrer vielen Möglichkeiten ausgeschöpft wurde“, beginnt, so Levedag, mit Adolf Loos, Archipenko, Gropius und Kandinsky „die zweite Periode der abendländischen Kultur“. Natürlich sah man sich selbst an einem Schlüssel- und Wendepunkt plaziert, natürlich fehlte es nicht am entsprechend fulminanten Selbstbewußtsein.

Das Dritte Reich übrigens interpretierte Levedag als Einbruch von „Schmutz“in das Bauhausideal der „Sauberkeit“, eine Hygienevorstellungen verpflichtete Begrifflichkeit, die auch die Nazis gebrauchten, natürlich auf ganz andere Weise.

Zu dieser Zeit war der Umgang mit der Abstraktion in Amerika so souverän, daß eine theoretische Fundamentierung dort längst nicht mehr nötig schien. Das Aus-dem-Bauch-raus-Argument genügte vollauf. Just 1947 machte ein Jackson Pollock seine ersten Drippings. Einfach so.

Im Gegensatz zu dieser Unbeschwertheit stehen Levedags Zeichnungen, die minutiös die kleinen Auswirkungen kleiner Veränderungen auf eine Grundform untersuchen. Ein Kreissektor vergrößert sich immer mehr: Mal scheint etwas zu fehlen, mal scheint es der Spitze nach vorwärts zu stürmen. Ein Tennisschläger wird in verschiedenen Perspektiven gezeigt: mal ist er identifizierbar, mal nicht. Drei Dreiecke werden Schritt für Schritt immer weiter zusammengeschoben: Mal ist die neue Figur statisch, mal scheint sie zu explodieren, mal in sich zusammenzustürzen. Es geht also um die Dynamik von zusammengesetzten Formen, um Berühren, Überschneiden, Durchdringen, Umeinanderkreisen. Die strenge, konsequente Systematik eines Josef Albers, der in hunderten seiner „Homages to the Square“der perspektivischen Wirkung von Farbabstufungen und nichts anderem nachspürte, fehlt bei Levedag allerdings. Sprunghaft treibt es ihn auf seiner Tennisschläger-Studie vom Thema Perspektivenverschiebung weiter zum Thema Formanalogie (zwischen Tennisschläger, Ei und Birne) und zum Thema Formüberlagerung weiter.

Dennoch zeigt die Ausstellung genau, wie die komplexen Figurenkonstellationen der Ölbilder aus einfachen Elementen abgeleitet wurden. Vielen Bildern gingen zeichnerische Entwürfe voraus. Schade, daß man Skizze und Ergebnis nicht zusammenhängte, sondern wieder mal die Minimallösung wählte: hier Öl, dort Zeichnungen.

Besonders interessant wird Levedag, wenn er seine formalen Einsichten auf Gegenständliches, besonders gerne auf die Darstellung von Liebespaaren, anwendet. Im Unterschied zum analytischen Kubismus oder Schlemmers Kegelmenschen zerlegt er den Körper nicht in seine offensichtlichen Bausteine, nicht in Nasenkegel, Hirnbalken usw. Vielmehr sucht Levedag Energielinien zwischen den Personen aufzuspüren. Beim Plakatpaar zum Beispiel summieren sich zwei Gehirne zu einem nach oben stechenden Kreissegment. Und manchmal überzieht ein System horizontaler Streifen ganze Landschaften. So werden isolierte Dinge miteinander verbunden. Nicht verwunderlich für einen Maler der Relationen.

Eine lohnende Ausstellung: auch die Maler aus der zweiten Reihe sind mehr als Duplikate, zeigen neue Aspekte einer alten Idee. bk

Paula-Becker-Modersohn-Haus, bis 11. Januar 1998