Die Klagemauer ist nicht für alle Juden da

Mit allen Mitteln versuchen die orthodoxen Juden in Israel ihre Vormachtstellung zu behaupten. Reformierte werden von der Klagemauer weggeprügelt. Die Spaltung vertieft sich. Und die Diaspora in den USA ist alarmiert  ■ Aus Jerusalem Georg Baltissen

Die Diskussion ist hitzig. Und von religiöser Toleranz kann keine Rede sein. „Der erste und zweite Tempel wurden zerstört, weil die Juden sich nicht einig waren“, sagt David Puger, ein Reformjude. „Wir haben nichts aus der Geschichte gelernt.“ In der Tat sind die Gräben zwischen orthodoxen Juden einerseits und den konservativen und reformierten Juden in Israel anderseits tiefer als je zuvor. Die Spaltung droht zu einer schweren Belastung für das Verhältnis zwischen Israel und der jüdischen Diaspora zu werden. Zwei Ereignisse der jüngsten Zeit werfen ein Schlaglicht auf dieses Schisma. Die erste Ernennung einer Reformjüdin für einen örtlichen Religionsrat und die Auseinandersetzungen an Tisha Be'av, dem Gedenktag an die Zerstörung des ersten und zweiten jüdischen Tempels, vor der Klagemauer in Jerusalem.

Obwohl das Oberste Gericht nach vierjährigem Streit die Ernennung von Joyce Brenner für den Religionsrat von Netanja für verfassungskonform befunden hat, hat sie noch an keiner Sitzung des Gremiums teilnehmen können. Nicht nur das orthodoxe Oberrabbinat, sondern auch Regierungsmitglieder haben dazu aufgerufen, den Gerichtsbeschluß zu ignorieren. Und in Netanja weigern sich die Orthodoxen, mit Brenner an einem Tisch zu sitzen.

Der stellvertretende Religionsminister von der ultraorthodoxen Schas-Partei, Arjeh Gamliel, soll laut Presseberichten gesagt haben, die Ernennung einer Reformjüdin zum Religionsrat sei nur vergleichbar mit der Ernennung eines Hamas-Mitgliedes zum Beamten im Verteidigungsministerium. Religions- und Innenminister Eli Souissa weigerte sich, Brenners Ernennung zu unterzeichnen. Nach einem Bericht des israelischen Radios feuerte Ministerpräsident Benjamin Netanjahu seinen Religionsminister daraufhin und unterzeichnete das Dekret selbst.

Nach anderen Meldungen soll Souissa allerdings wieder in sein Amt als Religionsminister eingesetzt werden, da er ohnehin Ende des Monats turnusgemäß von Zevulun Hammer von der National- Religiösen Partei abgelöst wird. Nach unbestätigten Meldungen hat Netanjahu überdies dem Vorhaben der religiösen Parteien zugestimmt, in der Knesset ein Gesetz einzubringen, das reformierten und konservativen Juden in Zukunft den Zutritt zu den Religionsräten verbietet.

„Dies ist ein völlig inakzeptables und undemokratisches Verhalten“, sagt der Parlamentsabgeordnete Amnon Rubinstein von der oppositionellen Meretz-Partei. Es sei das erste Mal in der Geschichte Israels, daß Mitglieder beider großen Parteien erklärten, sich nicht an den Beschluß des Obersten Gerichts halten zu wollen. „Die Aufgabe der Religionsräte“, so Rubinstein weiter, „ist es, für das Wohlergehen aller Juden einer Kommune zu sorgen.“ In diesen Räten sitzen auch Vertreter der Kommunalbehörden und der Parteien. Die Räte, die Zuschüsse vom Religionsministerium erhalten, bieten zahlreiche religiöse und erzieherische Dienste an. Sie sind verantwortlich für die örtlichen Synagogen und überprüfen auch, ob Lebensmittel koscher sind.

Rabbi Uri Regev, einer der Leiter der Reformbewegung in Israel, hat die Bewerbung von Joyce Brenner, die von der Meretz-Partei nominiert wurde, unterstützt. Er sagt, daß der Konflikt mit der Orthodoxie viele Formen habe. „Nur eine betrifft die Ernennung von Reformjuden zu den Religionsräten. Eine andere betrifft das Beten an der Klagemauer.“ Unlängst hat die Polizei eine Gruppe von 250 konservativen Juden daran gehindert, anläßlich von Tisha Be'av auf dem Platz vor der Klagemauer zu beten.

Unter Einsatz von Gewalt wurden die konservativen Juden von dem Platz vor der Klagemauer und aus der Jerusalemer Altstadt vertrieben. „Dies ist das erste Mal, daß die Regierung konservative Gebete an der Klagemauer für illegal erklärt hat“, sagt Rabbi Andrew Sacks, der das Gebet organisiert hat – für Männer und Frauen gemeinsam. In den Augen der Orthodoxen eine Sünde. Die pöbelten denn auch gegen die Konservativen und beschimpften sie. Sacks sagt, die Konservativen hätten ja nicht an der abgesperrten Zone direkt vor der Klagemauer gebetet, sondern auf dem weitläufigen Vorplatz, wo selbst dürftig bekleidete Touristinnen die Orthodoxen nicht stören würden. Das Verbot des Religionsministeriums sei daher völlig ungerechtfertigt. Und er kündigte an, daß er eine gerichtliche Untersuchung gegen das Vorgehen der Polizei einleiten werde.

Der Polizeieinsatz hat vor allem die große Zahl reformierter Juden in den USA alarmiert. Ihr Verhältnis zur israelischen Regierung und den Orthodoxen ist bereits belastet. Ein Gesetzentwurf, der eine erste Lesung in der Knesset passiert hat, sieht vor, daß nur das orthodoxe Rabbinat bestimmen darf, wer in Israel als Jude anerkannt wird und die Staatsbürgerschaft erhält. Konvertiten der Reformbewegung oder der konservativen Juden sollen grundsätzlich nicht anerkannt werden.

Das orthodoxe Rabbinat hat die Unterstützung der Regierung. Aufgrund von massiven Einsprüchen aus der jüdischen Diaspora ist dieses Gesetz bis jetzt nicht verabschiedet worden. Gegenwärtig sucht eine Verhandlungskommission nach einem Kompromiß. Bereits vor der ersten Lesung des Gesetzes im Frühjahr hatte Rabbi Eric H. Joffie, der Präsident der 1,5 Millionen Mitglieder zählenden Reform-Gemeinden in den USA, die Netanjahu-Regierung wegen der Gesetzesvorlage scharf attackiert. „Fanatische Orthodoxie“, so Joffie gegenüber der Washington Post „ist keine Antwort auf die Herausforderungen der Gegenwart. Religiöser Zwang zerstört die Essenz des Judentums. Es ist eine Beleidigung unserer Geschichte.“ Die US-Juden garantieren nicht nur politischen Einfluß zugunsten Israels, sondern auch umfangreiche finanzielle Hilfen.

Der Vorsitzende der Jewish Agency, Abraham Burg, warnte davor, daß ein solches Gesetz die Beziehungen zwischen der Diaspora und den Juden in Israel dauerhaft beeinträchtigen könnte. „Der Tempel wurde zerstört wegen sinnlosen Hasses, den wir jetzt wieder erleben mußten“, sagte Burg der Jerusalem Post in Anspielung auf die Ereignisse an der Klagemauer. „2.000 Jahre haben sich Juden danach gesehnt, an der Klagemauer zu beten. Jetzt wendet sich alles in eine neue Spaltung.“