Die Teufelsdroge

Das Schlaf- und Beruhigungsmittel Contergan war einst Auslöser der größten Arzneimittelkatastrophe. Jetzt will die US-Arzneimittelbehörde das umstrittene Medikament zulassen.  ■ Aus Rockville Peter Tautfest

Was Tschernobyl für die Atomenergie war, ist Thalidomid für die Pharmaindustrie: die bisher größte Arzneimittelkatastrophe der Geschichte. Jetzt soll das umstrittene Medikament in den USA erstmals zugelassen werden. 1956 kam das von dem Aachener Pharmaunternehmen Grünenthal entwickelte Medikament unter dem Namen Contergan auf den Markt und verursachte weltweit etwa 12.000 Mißbildungen – 6.000 allein in Deutschland. Als Beruhigungs- und Schlafmittel sowie als Arznei gegen die morgendliche Übelkeit bei Schwangeren galt Contergan als gut verträglich und frei von den unangenehmen Nebenwirkungen anderer Tabletten.

Als 1959 in Deutschland die ersten zwölf Kinder mit fehlgebildeten Gliedmaßen auf die Welt kamen, war Contergan in 48 Ländern in Apotheken frei erhältlich. In den USA hingegen war das Mittel nie zugelassen worden. Die US- Arzneimittelbehörde Food and Drug Administration (FDA) hat die Thalidomidkatastrophe als Argument dafür benutzt, das rigideste Zulassungsverfahren der Welt aufrechtzuerhalten. Doch ganz verschwand Thalidomid nie aus der ärztlichen Praxis, und bis heute werden – vereinzelt – immer noch Kinder mit Fehlbildungen geboren, die auf das Medikament zurückzuführen sind.

Trotz seines verheerenden Rufs wird Thalidomid als Wunderdroge gepriesen. 1965 tauchte sie erstmals in der wissenschaftlichen Literatur als erfolgversprechendes Mittel gegen Lepra in Mexiko auf, wo es 1988 zugelassen wurde. Erfolgreich ist Thalidomid auch bei der Behandlung von arthritischem Rheuma, Hirntumoren, Brustkrebs sowie Multipler Sklerose und dann vor allem als Therapie bei einer Reihe von symptomatischen Krankheitsbildern, die bei Aidspatienten auftreten. So zum Beispiel bei Tuberkulose – insbesondere bei Infektionen mit Antibiotika-resistenten Keimen, beim Kaposi-Sarkom und gegen Auszehrung, dem letzten Aidsstadium. Das gleiche Leiden übrigens, bei dem Marihuana so hilfreich ist. Anders als jene Protease-Inhibitoren, deren Kombination sich in letzter Zeit als erfolgreich bei der Behandlung von Aids erweisen, ist Thalidomid billig herzustellen.

Zu einer Zulassung hat sich die US-amerikanische Arzneimittelbehörde noch nicht durchringen können. Seit letzter Woche aber liegt ihr das Mehrheitsvotum jenes Gremiums auf dem Tisch, das Zulassungen prüft und vorschlägt: Bei strenger Indikation und bei Aufklärung der Patienten könnte dieses Medikament vielversprechend sein. Die abweichenden Stimmen machen geltend, daß, solange es Thalidomid gibt, auch fehlgebildete Kinder geboren werden.

Für die Gemeinde der HIV-Infizierten bedeutet die offizielle Neubewertung von Thalidomid noch keine Änderung. Sie können bis auf weiteres jetzt schon das Medikament durch sogenannte Käuferklubs erhalten. Diesen hat die US-Arzneimittelbehörde gestattet, auch solche Medikamente, die in den USA nicht zugelassen sind, für einen begrenzten Zeitraum aus dem Ausland zu beziehen. Derzeit wird das Thalidomid vor allem aus Mexiko bezogen.

„Das Problem mit Thalidomid“, erklärt Sally Cooper, Direktorin der People With Aids, sei, daß dessen Zulassung gleich mehrere Themen mit emotionalem und moralischem Sprengstoff berühre: „Da ist der Ruf des Thalidomids als Teufelsdroge, die Diskriminierung von Aidspatienten im allgemeinen und -patientinnen im besonderen, die Abtreibungsfrage und die Notwendigkeit, über Schwangerschaftsverhütung zu reden.“ Man könne über Thalidomid noch soviel Aufklärung verbreiten, letztlich setze die Zulassung ein Verhältnis zwischen Arzt und Patient voraus, „in dem der Arzt offen mit seiner Patientin über Sexualität sprechen kann“, meint Cooper. Die Berichte um die angeblich freie Verfügbarkeit der Droge in Entwicklungsländern wie Brasilien und Mexiko habe das Mittel darüber hinaus noch weiter stigmatisiert.

Im National Health Institute in Rockville, Maryland, vor den Toren Washingtons, trafen sich dieser Tage schon Thalidomid-Experten auf einem Kongreß, um über Erfolge bei der Anwendung der Droge zu berichten und die medizinischen, ethischen und juristischen Voraussetzung der Therapie zu beraten. „Die Überlebenden werden nie eine Welt mit Thalidomid akzeptieren“, erklärte dabei Randolph Warren, Thalidomid-Opfer aus Kanada, „wir setzen uns aber trotzdem für dessen Zulassung auf Verschreibungsbasis ein und gleichzeitig für die Entwicklung von Alternativen.“

Wie irrational solche Diskussionen sein können und mit wie unterschiedlichen Maßen Medikamente dabei gemessen werden können, zeigt das Beispiel Accutane, ein verschreibungspflichtiges, aber immerhin erhältliches und sehr wirksames Mittel gegen Akne, das bei Einnahme während der Schwangerschaft nicht anders als Thalidomid schwere Fehlbildungen bei Neugeborenen hervorrufen kann. Accutane nahmen bisher rund 350.000 Frauen ein.