Gegen Schubladendenken

Antirassismusaktion „Tour de Chance“ startet heute vor der Marienkirche. Ziel ist, Passanten durch Kunstaktion nachdenklicher zu machen  ■ Von Tobias Singelnstein

„Wir wollen das Europäische Jahr gegen Rassismus aus den Seminarräumen und Veranstaltungssälen heraus in den Alltag transportieren, dorthin, wo latenter Rassismus anzutreffen ist und die notwendige Auseinandersetzung häufig nicht stattfindet.“ Unter diesem Motto startet heute um 10 Uhr vor der Marienkirche ein Projekt des Antirassistisch-Interkulturellen Informationszentrums (Aric) namens „Tour de Chance – Unterwegs mit der öffentlichen Schublade“. Bis zum 3. Oktober ist die „Tour de Chance“ in deutschen und westeuropäischen Städten unterwegs, um dort Bürger mit dem Thema Rassismus zu konfrontieren. Neben Magdeburg, Bielefeld, Nürnberg und Dresden stehen auch Straßburg, Rotterdam und Brüssel auf dem Programm. Die Ausländerbeauftragte Barbara John verabschiedet die „Tour“, die wieder in Berlin enden wird.

Barbara Simon vom Aric, die das Projekt begleitet, erklärte: „Wir wollen mit einfachen Mitteln Zugang zu Leuten finden, die sich sonst dem Thema Rassismus verweigern.“ Zu diesem Zweck wird an den Aktionsorten die sogenannte „öffentliche Schublade“ aufgebaut. In den einzelnen Fächern des kunstvollen Schubladenschranks finden die Passanten Objekte zu Themen wie Migration, Nationalismus, Herkunft und Reisefreiheit, die sie visuell anregen sollen.

In der Schublade „Rasse“ beispielsweise findet der neugierige Öffner etwa Tüten mit Berliner, Magdeburger, Brüsseler und Rotterdamer Blut, die den Begriff Rasse ironisieren sollen. Das Fach „Reisefreiheit“ hingegen läßt sich gar nicht öffnen, um zu demonstrieren, daß Reisefreiheit nicht für alle gilt. Die beiden Männer und Frauen, die in den kommenden zwei Wochen die Schubladenaktion immer nachmittags in den insgesamt 13 Städten durchführen werden, wollen es bei den artifiziellen Effekten nicht belassen. Außerdem sollen Postkarten, Poster und Faltblätter zu den Schubladenthemen und Informationsmaterialien von etwa 30 antirassistischen Organisationen aus Ostdeutschland an Interessenten verteilt werden.

An dem Erfolg ihrer Methode zweifelt Aric-Aktivistin Simon nicht: Bei einem ersten Versuch mit der Schublade auf dem Bahnhof Zoo war das Interesse der Vorbeikommenden groß. Die Probleme lägen woanders: Es sei sehr mühselig gewesen, Genehmigungen für die Aktionen in den einzelnen Städten zu bekommen. Offensichtlich herrsche Mißtrauen, wenn da so ein antirassistischer Verein ankommen würde, sagte sie. Und auch die Gefahr, von Neonazis angepöbelt zu werden, sieht sie. Man habe allerdings auch ganz bewußt Orte die Magdeburg und Hoyerswerda gewählt, die durch rassistische Vorfälle unrühmlich bekannt geworden sind.

Gefördert wird das Projekt von der EU im Rahmen des Europäischen Jahres gegen Rassismus. Wie zahlreiche andere antirassistische Basisorganisationen hat auch Simon einige Kritik an der Inszenierung dieses Jahres: Der staatliche Beitrag dazu sei „erbärmlich“, und auch sie wäre dem Trugschluß aufgesessen gewesen, daß es mit dem Antirassismus-Jahr Mittel für die Basisarbeit geben würde.

Doch sie sieht auch die Vorteile des Jahres: Durch die öffentliche Diskussion, zu der auch Deutschland durch den Druck der anderen EU-Staaten gezwungen worden sei, werde das Thema Rassismus enttabuisiert und damit erst diskussionsfähig.