„Ich fühle mich erwachsener“

Vier türkische Brüder lernen im Gemüseladen „fürs Leben“. Das Gesetz verpflichtet sie sogar zur Mithilfe. K.R.Ä.T.Z.Ä. fordert Grundrecht auf Arbeit  ■ Von Barbara Bollwahn

Erkan steht vor dem Gemüseladen und wartet auf Kundschaft. Weil nicht viel los ist an diesem Nachmittag, stapelt der 13jährige leere Kisten aufeinander und trägt den Müll weg. Für Erkan und seine drei Brüder ist es selbstverständlich, ihrer Mutter nach der Schule in dem Laden in Kreuzberg zu helfen. Taschengeld bekommen sie nicht. „Es gefällt mir“, sagt Erkan, „außerdem lerne ich, mit Kunden umzugehen.“ Sein 12jähriger Bruder Kader erzählt stolz: „Ich habe gelernt, die Waage und die Kasse zu bedienen.“

Auch der 16jährige Vorkan hat Spaß am Bedienen, Verkaufen und Einräumen. „Ich kann Leute ansprechen und überzeugen“, faßt er seine Erfahrungen zusammen. Özgur, mit 17 Jahren der Älteste, betont, daß alle die Arbeit freiwillig machen. Er erzählt, daß er schon mit 16 Jahren einen Gewerbeschein für Reisende hatte. „Da mußte das Vormundschaftsgericht bestätigen, daß ich klar im Kopf bin“, sagt er und lacht. Jetzt ist er mit seinen 17 Jahren sogar der Ladeninhaber.

Daß die Freizeit oder die Zeit für die Hausaufgaben zu kurz kommt, glaubt keiner der Brüder. „Wenn ich was anderes vorhabe“, sagt Özgur, „mache ich das.“ Es sei allemal besser, im Geschäft zu helfen, „als rumzuhängen“. Die Mutter nickt: „In Kreuzberg ist es schlimm. Die rauchen und klauen nur.“ Die Mutter, die seit 26 Jahren in Deutschland lebt, findet es gut, daß ihre Söhne im Laden „von klein auf etwas für das Leben lernen“. Es sei „blöd“, daß Kinder hier „erst so spät arbeiten dürfen“.

Was sie nicht weiß, ist, daß Kinder nach dem Bürgerlichen Gesetzbuch (BGB) sogar verpflichtet sind, im Geschäft ihrer Eltern zu helfen. „Das Kind ist“, heißt es im BGB, „solange es dem elterlichen Hausstand angehört und von den Eltern erzogen oder unterhalten wird, verpflichtet, in einer in seinen Kräften und Lebensstellung entsprechenden Weise den Eltern in ihrem Hauswesen und Geschäft Dienste zu leisten.“ Rosemarie Kienau von der Senatsverwaltung für Soziales betont, daß diese Arbeiten weder „kontinuierlich“ sein noch die körperliche und schulische Entwicklung beeinträchtigen dürfen. An einen „großen Mißbrauch“ glaubt sie nicht. „Zum Glück sind Kinder nicht überall einsetzbar.“

Das sehen die Mitglieder von „KinderRÄchTsZÄnker“ (kurz K.R.Ä.T.Z.Ä) vom Verein Netzwerk Spiel/Kultur in Prenzlauer Berg ganz anders. „Kinder haben vergleichbare Fähigkeiten wie Erwachsene“, sagt der Sozialpädagoge Mike Weimann. Es gebe „Tausende geeignete Arbeiten“. Denkbar seien Jobs im Büro, im Handel, Medienbereich, Putzarbeiten oder auch als Unternehmer. Daß damit arbeitslosen Erwachsenen Jobs weggenommen würden, bezeichnet der Student Christoph Klein, der als Honorarkraft in der Gruppe tätig ist, als „Kurzschlußargumentation“: „Mit dem Kinderarbeitsverbot kann man das Problem der Massenarbeitslosigkeit auch nicht lösen.“

Die etwa 25 Mitstreiter von K.R.Ä.T.Z.Ä. fordern neben einem Grundrecht auf Arbeit Rechtsberatungen für Kinder. Denn die „Gefahr der Ausbeutung“ stehe außer Frage, so Christoph Klein. Doch man müsse Kindern zugestehen, mit entsprechender Unterstützung, für sich entscheiden zu können. „Kinder sind doch nicht bescheuert“, so Sozialpädagoge Weimann, „die lassen sich doch nicht über den Tisch ziehen.“

Suchen Kinder oder Jugendliche auf dem Arbeitsmarkt nach Jobs, ist Vorsicht geraten. So hat eine 16jährige Gymnasiastin aus Neuenhagen in Ostberlin auf ihre Anzeige in der Berliner Zeitung ein mehr als dubioses Angebot bekommen. Statt einen gewünschten Teilzeitjob als Babysitterin erhielt sie einen Anruf von einem „eigenartigen Typen“. „Er wollte was wegen Fotos“, so die Schülerin. Er habe zwar „seriös geklungen“. Doch über seine Fragen nach ihrem Aussehen habe sie sich schon gewundert. Er habe „etwas von Fotos im Badeanzug“ erzählt und wollte sich am Sonntag am Bahnhof mit ihr treffen. „Dann wollte er noch wissen“, so die Schülerin weiter, „ob es am Bahnhof Zimmer gibt.“ Weil sie dem Anrufer auch ihre Adresse gegeben hatte, will sie nun zusammen mit ihrem Vater zu dem vereinbarten Termin erscheinen. „Sonst steht er Sonntag bei uns vor der Tür“, so die Schülerin.