Bonsai-Faust, ganz groß

■ Brandauer spricht in der Glocke Schumanns „Manfred“

„Vielleicht schaffen wir heute abend einen Durchbruch“, so prophezeite Thomas Hengelbrock – versetzt mit gebotener Zurückhaltung – eine Aufwertung von Schumanns Melodram „Manfred“. Der erzromantischen Overtüre gönnte man längst Zutritt zu den Konzertsälen. Der Rest aber mußte draußen bleiben. In der Konkurrenz mit sinnlich-protziger Oper konnte das liebeskonfusions- und intrigenlose Werk nicht bestehen.

Doch die Zeiten haben sich geändert. Das moderne Musiktheater arbeitet – wie die Menschen – an offeneren Beziehungen, an einem neuen Konnex zwischen Bühne, Musik und Text. Und selbst die Popkultur entdeckte mit dem Hip-hop interessante Verschweißungen von gesprochenem Text und Musik. Kein Grund zur Angst mehr vor dem Rezitieren.

Trotzdem: In einer Zeit, wo Lebensperspektiven in Prozentpunkten von Arbeitslosenquoten, BIP und Mietpreisniveau ausdiskutiert werden, ist die zwar vage, aber drastische Grundsätzlichkeit von Lord Byrons Text unendlich fremdartig. Aber wie alles Fremdartige, das dem Fluch des Abstoßenden mal gerade nicht unterliegt, wirkt Manfreds Herbeizitieren des „grenzenlosen Weltalls der Geister – ich rufe Euch!!!!!!“und ein penetrantes Beharren auf seiner Einzigartigkeit „anders als andere Menschen“ausgesprochen faszinierend. Dieser apart schuldbeladene, apart gotteszweifelnde Vorfahr des Übermenschen, kann schwer ernst genommen werden, – aber genossen werden wie ein schwerer, benebelnder Wein. Noch dazu, wenn er ersprochen wird von einem hochdramatischen, untergründig verschmitzten, pathos-entpeinlichenden Klaus Maria Brandauer.

Der eklektische Manfredkosmos, besiedelt vom bösen zoroastrischen Gott Ahriman und der babylonischen Astarte, ist mit seinem überflüssigen Philosophieren über Gut und Böse, Schuld und Vergessen, Selbstmord und Erinnern, so falsch, fesselnd und faszinierend wie die Wagnerwelten. Byron, der vom alten Goethe geschätzt wurde und die ganze Romantikersippe bis zu Heine beeindruckte, verdient es, in deutschen Landen präsenter zu sein. Schumann, der Meister hochkomplexer, ungreifbar fließender Gefühle, der in seinen Liedern in zwei Minuten ohne weiteres durch fünf verschiedene Himmel und Höllen schleicht, und dann auch noch in einem kurzen Klaviernachspiel alles nochmals ganz anders gewesen sein läßt, dieser Schumann, der selbst unter Heinescher melancholisch-unbeschwerter Doppelgestimmtheit noch ein paar weitere Subtextebenen einziehen muß, dieser Ziseliermeister also sehnte sich nach der großen Form. „Mein Morgen- und Abendgebet gilt der deutschen Oper“.

Er suchte sie fast 10 Jahre lang verzweifelt im Faust, fand sie nicht - so die Übereinkunft der Musikwissenschaftler – in Hebbels Genoveva, vielleicht aber im Bonsai-Faust Manfred. Byron verwehrte sich gegen jeden Vergleich mit Goethe, die Parallelen aber bis hin zu einer Variation des Osterspaziergangs, sind unverkennbar. Richtiggehend Camusscher „Lebensekel“und Wissenschaftsüberdruß mischen sich mit Schuldgefühlen gegenüber einer Frau. Schumann, Karrierevernichter seiner Frau, hatte sie wohl nicht. Trotzdem ist die Zerrissenheitsetüde autobiographisch aufgeladen, in einer fast ebenso mythenträchtigen Weise wie Mozarts Requiem. Oder ist es das wache, konturenreiche, jedes Crescendo zu einem ekstatischen Ereignis, jedes Decrescendo zu einer definitiven Erlösung gestaltende Spiel der Deutsche Kammerphilharmonie unter Thomas Hengelbrock, was dieses seltsame Stück so verführerisch macht? bk