Innenschau im Maschinengewitter

■ Bestürzend geniale „Einstürzende Neubauten“im Pier 2

Schock Nr. 1: Blixa Bargeld ist nicht mehr das unwirklich schöne, blasse, fragile, körperlose Nachtschattengewächs, dem einst die Verehrung vieler Kellerexistenzen gehörte. Der Mann ist, außerdem ißt er, und zwar sichtlich zuviel. Vielleicht geht er sogar zum Bodybuilding. Das ist aber nur eine ungeprüfte Verdächtigung.

Schock Nr. 2. Eine der Lieblingszeilen beim Duschen immer falsch mitgebrabbelt! Es heißt gar nicht „Ich bin's. Mach Licht auf.“Richtig ist vielmehr: „Ich bin's. Mach nicht auf.“Ob auch andere ihr Leben lang in einem falschen Satz miteingesummt haben? Eigentlich aber auch egal: Schließlich liegt bei den Einstürzenden Neubauten Licht und „nicht“nahe beieinander, Glück und Zerstörung sind verwechslungsfähig – jederzeit.

Und deshalb sind die Neubauten immer noch eine absolute Speerspitze-der-Avantgarde-Band, trotz Wampe; und deshalb war am Pier 2 das ergreifendste Konzert des Jahrzehnts zu hören.

Genial das Timing. Als „Vorband“fungierte ein knorriger, alter Mann, Typ einsamer Appalachen-Bergbauer; dem standen vier Stahlstäbe und ein Streicherbogen zur Verfügung. Das rudimentäre Equipment behandelte er rudimentär. Was ist rudimentär multipliziert mit sich selbst? Ein Ton, ein häßlicher, widerlicher, spannender, herausfordernder, sirenenverlockender, unerträglicher Ton, eine Selbsterfahrungsmaschine. Oh Du alter Mann. Du hätte die Bogenfrequenz variieren können, Du hättest zwischen den Metallstäben wechseln können, doch Du tatest es kaum. Du kennst wohl die Legende vom Komponisten Giacinto Scelsi. Der soll im Irrenhaus stundenlang auf einer einzigen Klaviertaste herumgehackt haben. Natürlich hielten ihn daraufhin die Ärzte für endgültig durchgeknallt, – doch er war geheilt, spontangeheilt, durch die Macht der Versenkung. Und die sieht man auf dem Bild nebenan, hörte man von 9.40 Uhr bis 11.30.

Peinlichkeiten sind selten wahr. Ein korrekter Satz. Andererseits gilt: Wahre Gefühle sind nicht selten peinlich. Das ist zwar unlogisch, aber, wie jeder weiß, richtig. Wagemutig fallen die Neubauten in peinlichkeitskontaminiertes Seelenterrain ein und kommen ungeschoren ohne zu stinken und zu kleben davon. Neben Blumfeld sind sie die einzigen, die das Wort „Herz“verwenden können. Nicht einmal Ironie haben sie dazu nötig. Und sie können Eichendorff zitieren: „Schläft ein Lied in allen Dingen/ die da träumen fort und fort/ Und die Welt hebt an zu singen/ kennst du nur das Zauberwort.“

Die Welt, bei den Neubauten also das Ich, hat schließlich auch wenig Chancen weiterzupennen, rüttelt doch eiserner Rhythmus an ihm. Die Musiker hauen und stechen auf ihre Maschinen, Trommeln, Bleche, Rohre und Gitarren ein, um jedem Ton den letzten Funken Groove auszutreiben. Klar steht er da wie ein Yves Klein Bild, schneidend wie Messers Scheide. Musik ist unerbittliche Motorik. Oder sie tastet sich hauchzart und zaghaft vorwärts. Hier ein Klang - warten - da ein anderer Klang - lauschen ...Wie sonst nur in der E-Musik gebräuchlich, durchschreitet fast jedes Stück gewaltige Wegstrecken, von außen nach innen und wieder zurück, zuhauen und nachdenken, Aggression und Kontemplation.

Passend schwarz sind die meisten Zuhörer gekleidet, es geht um Grundsätzliches, nicht um bunten Flitterkram, gar Vergnügen. Das ist das Vergnügen! Ausgelassen rumhampeln tut niemand, gefesselt wippen, nicken, pendeln oder einfach nur stehen am Ende ganz viele. Es gibt sie also, die Avantgarde, die nicht altert. Schock Nr. 3. bk