Die blasse Kassandra dankt ab

■ Gesichter der Großstadt: Die scheidende DGB-Vorsitzende Christiane Bretz kämpft gegen Sozialkahlschlag und Ausländerhaß. Doch in der Gewerkschaft ist ihre Kompetenz umstritten

Würde sie Fußball spielen, dann in der Verteidigung, nicht in der Sturmspitze. Wenn es bei Berlins und Brandenburgs Beschäftigten Ärger wegen ABM-Kahlschlag, Verlängerung der Ladenschlußzeiten oder Nullrundenwünschen der Arbeitgeber gibt, bei Streit und Streik: Christiane Bretz, Chefin des DGB in Berlin-Brandenburg, verteidigt ihre Gewerkschaftsmitglieder, kritisiert PolitikerInnen und erregt sich vor Arbeitnehmerpublikum. So kennen wir sie: In Abwehrhaltung, beide Hände fest an den Außenkanten des Podiums verwurzelt, harte Kampfmiene, die Augen fokussieren zielgerade durch die leicht getönte Brille. Dann legt sie los und läßt ihrer Empörung freie Bahn.

Damit ist bald Schluß: Im Februar 1998 beendet Bretz ihre zweite Amtszeit und wird nicht erneut kandidieren. Aus rein persönlichen Gründen, sagt sie. Doch die Chefin ist beim DGB umstritten: Bereits 1994 vor ihrer Wiederwahl gab es DGB-typisch hinter vorgehaltener Hand viel Kritik an ihrem Führungsstil: Sie könne nicht delegieren und verstehe zuwenig von Wirtschaftspolitik. Weit über dreißig Prozent stimmten damals gegen sie, obwohl sie keine Gegenkandidaten hatte. Sie blieb im Amt, doch der interne Vertrauensverlust wog schwer.

Einst überwand Bretz verstaubte Traditionen. Sie wurde als erste Frau zur Chefin eines DGB- Landesbezirks gewählt. Die gebürtige Berlinerin, Jahrgang 1939, durchlief zuvor alle Stationen herkömmlicher Gewerkschaftskarrieren: Nach einer Buchhändlerlehre und der Arbeit im Buchhandel sammelte sie als Bibliotheksangestellte erste Gewerkschaftskontakte. Mit vierunddreißig Jahren wurde Bretz Personalrätin an der FU, ein Jahr später ÖTV-Mitglied. Der Stallgeruch stimmte offensichtlich, so daß sie 1982 als ÖTV- Delegierte in den DGB-Bundeskongreß einzog. Ein SPD-Beitritt erleichterte daraufhin ihren Wechsel zum DGB: Sie wurde Landesfrauensekretärin und rückte 1986 zur Berliner DGB-Vizechefin auf.

„DGB-Politik nach Hausfrauenart“, urteilte die taz kaum ein Jahr nach ihrer ersten Wahl an die DGB-Spitze 1990. Die Frau mit dem Riecher für soziales Ungemach kochte auf vielen Flammen: Nach der Vereinigung übernahm der DGB die Gewerkschaftsführung in Brandenburg. Bretz mußte die gewerkschaftliche Rechtsberatung für die vielen tausend kündigungsbedrohten BrandenburgerInnen aufbauen. Über sechzig Prozent der Beschäftigten im verarbeitenden Gewerbe verloren bis 1993 in Brandenburg ihren Job. Der DGB forderte die schnelle Lohnangleichung zwischen Ost und West. Gegen die Privatisierungen und Massenentlassungen hatte Bretz aber nicht viel in der Hand. Ihre scharfen Proteste verhallten wirkungslos.

Mit Akribie betreibt sie Frauenförderung, ihr Steckenpferd. Sie kämpfte für das Landesantidiskriminierungsgesetz (LADG) und bessere Arbeitsmarktchancen für Frauen. Politisch engagierte sich Bretz für die Erhaltung des Grundgesetzartikels 16 zum Asylrecht und gegen Ausländerfeindlichkeit.

Unterdessen blieben die Koordination der einzelnen Branchengewerkschaften und die Motivation der Gewerkschaftsmitglieder auf der Strecke – unter Bretz verlor der DGB an politischem Einfluß. Die Anfrage, warum am 1. Mai mehr Autonome demonstrierten, als Gewerkschafter, beantwortete die DGB-Chefin 1991 noch mit „schlechtem Wetter“. Doch drei Jahre später kamen gerade noch 5.000 DGBler zur Predigt, und 1996 skandierte rund die Hälfte der 20.000 KundgebungsteilnehmerInnen: „DGB-Führung weg!“ Dieser Vertrauensverlust muß sie getroffen haben.

Zu oft verblaßten die Bretzschen „Kassandra-Rufe“ etwa gegen Milliardenkürzungen bei ABM gegenüber den markanten Stellungnahmen etwa eines ÖTV- Chefs Kurt Lange, der etwa gegen den Verkauf der Wasserbetriebe einen Aufstand ankündigt. Der Arbeitskampfdramaturgie des DGB fehlte zu häufig der Schlußakt.

Doch zum Ende ihrer langen Amtszeit auf dem DGB-Chefsessel kann Christiane Bretz trotzdem auch Erfolge verzeichnen. So hat sie die auseinanderdriftenden Einzelgewerkschaften in jüngster Zeit wieder enger zusammengebracht – beispielsweise zur gemeinsamen Sitzung aller Tarifkommissionen. Die Erfolge dieser Strategie werden ihre NachfolgerInnen ernten. Peter Sennekamp