Die Angst vor der Auflösung

■ Stücke von Albert Ostermaier sind für jedes Theater eine Herausforderung. Udo Samel hat nun im Marstall des Bayerischen Staatsschauspiels "Zuckersüss & Leichenbitter" uraufgeführt

Albert Ostermaiers lyrisch-hermetische Monologe stellen jeden Regisseur vor die Frage, ob es etwas in ihnen gibt, das zur Bühne drängt. Trotz einiger szenischer Momente stürzen sie das Theater in eine Angstlust völliger Freiheit. Alles ist möglich, man kann aber auch furchtbar abstürzen, wie André Wilms' Uraufführung des Ostermaier-Debuts „Zwischen zwei Feuern. Tollertopographie“ (taz vom 23.6.95) zeigte. Das war vor zwei Jahren und lange bevor der Jungautor zum Shootingstar ausgerufen wurde. Ort des Geschehens auch damals: der Marstall des Bayerischen Staatsschauspiels, ein Steinwurf vom Werkraum der Münchner Kammerspiele entfernt.

Beide Bühnen verstehen sich als Münchner Experimentierstätten, die Konkurrenz ist groß und das Fachpublikum geballt. Schauspiel-Grandseigneur Rolf Boysen geistert nimmermüde durch den gewollten Rohzustand dieser Theaterräume und sieht nach, was die Jugend so macht. Im aktuellen Fall wollte er natürlich wissen, was dem Berlin-Import zu „Zuckersüss & Leichenbitter“ eingefallen ist. Inszeniert hat kein geringerer als Udo Samel, der in Ostermaiers zweitem Stück auch gleich die Hauptrolle spielt: einen Mann im Dialog mit einem Zuckerstück; die Sprache fließt zwischen Ding und Mann; die Sprechhaltungen wechseln ständig. Das süße Stück macht den Mann an, der erinnert sein Leben und reagiert widerwillig auf Episoden, in denen er allem Anschein nach ein Freiheitskämpfer war: in Mexiko, dem Spanischen Bürgerkrieg oder anderswo.

Verständlich, daß das Zuckerstück nicht im Kaffee in süßer Auflösung sterben will und um sein Leben redet. Klar ist ebenfalls, daß es auch für den Mann um Kopf und Kragen geht und die Texte frei zwischen den beiden ungleichen Protagonisten aufgeteilt werden können. Also inszenierte Samel sich als einen Endspieler Becketts und rollt, nachdem die pneumatische Tür in der riesigen Rückwand in Eduardo Arroyos phänomenalem Raum sich geöffnet hat, mit Hut und Brille als leibhaftiger „Endspiel“- Hamm herein. Beim ersten Lichtwechsel entpuppen sich die Flugzeuge auf der Wand als Negative. Sie sind nicht gemalt, sondern ausgesägt und hängen über der Szene wie Todesvögel.

Dann schwenkt Samel das Schnapsfläschchen und mümmelt das ein oder andere Wort in sich hinein, während er listig schielt, ob er dieser Situation nicht doch noch entkommen könnte. Hinter ihm Matthias Brandt als mephistophelische Figur namens Leichenbitter, berauscht von seiner teuflischen Allmacht. Er waltet über skulpturale Gebilde, die vorerst noch unter Tüchern harren und sich nach der Enthüllung als gestürzte Jukeboxes entpuppen. Leichenbitter schnippst sie nach Belieben an, und das seltsame Paar aus Mann/ Zuckerstück wehrt sich immer wieder gegen die hämmernden Bässe, mit denen Leichenbitter sie traktiert. Was nicht unbedingt im Text angelegt ist: Udo Samel hat lange Passagen des Monologs dem Tonband anvertraut, auf daß das Zuckerstück flackernd wie ein Mischpultlämpchen rede und er selbst auf die Stimme reagieren könne. Eine Zeit lang geht das gut, dann aber hechelt die Tonbandstimme nur noch über den Text hinweg, wuselt Samel schauspielerisch der Stimme hinterher. Er könnte ein alter Mann sein, den die Erinnerung als immerwährender Kopfmonolog heimsucht. Nach dem ersten Drittel allerdings exekutiert er nur noch Text und es wird Zeit, daß sich die Inszenierung eine Zäsur gönnt.

Sie kommt in Form der Sängerin Therese Renick und einem gesungenen Schöpfungsmythos. Mephisto Leichenbitter gefällt das nicht unbedingt, um so mehr allerdings dem Publikum, da der Musikverantwortliche des Geschehens, Bert Wrede, aus ihrer Stimme einen im Raum oszillierenden Klangteppich gesampelt hat. Udo Samel spielt den alten Schwerenöter, der unter Umständen durchaus noch einmal an die Frau ran möchte. Die Frage, was sie in diesem Zusammenhang eigentlich soll, erübrigt sich aus zumindest zwei Gründen: zum einen singt sie verdammt gut, zum anderen schwebt das Ganze ja schon seit einiger Zeit in Gesamtkunstwerk-Sphären.

Schauspielerisch spannend wird dieser Schwebezustand allerdings nur, wenn Samel handfest und direkt mit dem Zuckerstück spielt. Gegen Ende etwa, wenn Ostermaier seinem Stück eine punkige Travestie der Lessingschen Ringparabel gönnt und Samel den Witz von der Unversöhnlichkeit der Religionen erzählt. Da will Moses doch tatsächlich, daß Superstar Jesus endlich diesen Mohamed herbeizitiert. Jesus, völlig entspannt in seinem „manna & sonnengeflechtscheiss“, rafft sich irgendwann auf und ruft Mohamed, der tatsächlich auch kommt. Und wozu das Ganze? Mohamed soll den beiden Herren auf der Wolke lediglich einen Kaffee bringen. „Der war nicht rassistisch der Witz Kumpel“, meint Moses zu Jesus, und Samel lacht sich halbtot über den Witz, den er da dem Zuckerstück erzählt hat. Jürgen Berger

Albert Ostermaier: „Zuckersüss & Leichenbitter“. Regie: Udo Samel. Mit Udo Samel, Matthias Brandt, Therese Renick. Bayerisches Staatsschauspiel München/ Marstall. Weitere Vorstellungen: 29., 30. 9. Und 1.–5. 10.