■ Kolumne
: Feeling so totalitär today

Ich saß spätabends in meinem geräumigen Büro im obersten Stockwerk eines postmodernen Büroturms. Als Chefredakteur des bedeutendsten deutschen Musikmagazins mußte ich oft bis in die Nacht arbeiten. Ich weiß nicht mehr, an welchem Thema ich saß, als meine Sekretärin einen Besucher hereinführte, der sich nicht hatte abwimmeln lassen: „Chef, er ist hier einfach herein...“

Ich sagte gar nichts, sondern guckte mir den Mann an. Mit seinem akkurat gestutzten Haarkranz, dem leicht zu groß geratenen Brillengestell, dem dunklen Pullover unter einem formlosen Jackett und Sandalen an den Füßen erinnerte er mich an einen Kirchenfunktionär. „Ihr...“, stieß er auf einmal haßerfüllt hervor, und es war ihm anzumerken, daß er sich im Zustand höchster Erregung befand. „So lebt ihr also!“

„So lebe ich nicht, so arbeite ich“, entgegnete ich. Die Besserwisserei hatte ich mir immer noch nicht abgewöhnt. Er ging nicht darauf ein: „Ihr könnt sie einfach nicht in Ruhe lassen“, begann er nun seine anscheinend vorbereitete Ansprache. „Immer müßt ihr sie niedermachen. Ich halte das nicht mehr aus.“Er war jetzt richtig böse geworden. „Das scheint euch nicht in den Kram zu passen, daß sie immer noch geile Musik machen. Dann kommt ihr mit euren Spitzfindigkeiten und beschüttet sie kübelweise mit Dreck. Und dann dieser pseudo-intellektuelle Kram! Bei Rockmusik geht es ums Feeling. Aber das versteht ihr natürlich nicht. Ihr... Hirnwichser. Die Stones werdet ihr von jetzt an in Ruhe lassen, dafür sorge ich.“Er sah mich mit einem triumphierenden Lächeln an.

„Nun, ich war es nicht, der die letzte Stones-Platte besprochen hat“, sagte ich, nicht um mich zu verteidigen, sondern um die Dinge richtigzustellen. „Aber die Musik dieser Gruppe ist tatsächlich so tot wie diese Glasplatte hier, das Geld, das sie verdient, ein obszöner Schandlohn. Daß Sie immer noch Feeling zu entdecken glauben, ist ein Reflex, der ausgelöst wird, weil Sie bei dem vertrauten Klang an die alten Songs denken...“

„Halt die Fresse!“schrie er. „Das ist genau das, was ich meine“, fügte er nach kurzer Pause hinzu. Er fing wieder an zu grinsen, diesmal noch diabolischer. In diesem Augenblick wachte ich auf. Als ich um mich herum die wohlbekannte Umgebung sah, war ich beruhigt. Dann kann ich ja auch weiterschlafen und sehen, was nun passiert, sagte ich mir. Sofort befand ich mich wieder in jenem Büro und erwartete den Fortgang der Diskussion. Dazu kam es nicht. Der Mann zog eine Pistole, ich versuchte mich noch aus der Schußbahn zu werfen. Zu spät.

Noch bevor ich wieder aufwachte, konnte ich mitanhören, wie meine Sekretärin irgendjemandem über meinen Mörder berichtete: „Der soll ja richtig verrückt gewesen sein. Die Polizei hat herausbekommen, er glaube, daß in den Zeitungen jede Menge nur für ihn bestimmter Botschaften stehen...“