Gealterte Stiefkinder

■ Zum 30. Mal musikalische Antimaterie Das Total Music Meeting im Podewil

Während die Jazzfreunde im Haus der Kulturen auch dieses Jahr in satten Big-Band-Klängen und weitgeschwungenen Improvisationen schwelgen, hauen die Stiefkinder des Jazz beim Total Music Meeting im Podewil auf die Pauke. Zumindest sahen sie sich bei der Gründung des Gegenfestivals vor dreißig Jahren als Stiefkinder – was sie mit Saxophon, Schlagzeug, Zupfbässen und mehr zu untermauern versuchten.

Die Totale oder Freie Musik, wie sich das europäische Pendant zum amerikanischen Free Jazz ganz bewußt nennt, ist indes kein Jazz, genauer gesagt: nicht nur kein Jazz, sondern die Antimaterie jeglichen kategorisierbaren, formalisierbaren Ausdrucks. Was stattfindet – oder zumindest stattfinden soll –, ist die Laut gewordene Interaktion extrem eigensinniger Individualitäten. Die Kunst, die entsteht – und nur im Moment ihrer Hervorbringung existiert –, ist das Handeln sich selbst vorfindender instrumentaler Personen in der Enge des Klangraums.

Vorhersagen über solche Momente sollten nicht gemacht werden, aber sicher scheint: Evan Parkers Tenorsaxophon wird wie durchknallende Lautsprecher klingen, sein Sopran wie ein Käfig mit hundert Spatzen. Peter Brötzmann wird rot anschwellen, seine Kollegen werden sich gegen ihn durchzusetzen haben, und Klavierkaskadeur Alexander von Schlippenbach wird Mühe haben, den Free- Jazz-Opa Sam Rivers an dessen Vergangenheit mit Cecil Tylor zu gemahnen.

Daß unter den Deutschen vornehmlich ältere Herrschaften auftreten werden, die schon damals, vor 30 Jahren, die Szene bildeten und jetzt ungefähr so alt sind wie Beethoven, als er starb, erlaubt es, der Frage nachzugehen, inwieweit lange Erfahrung mit dieser Kunst dann doch zur Ausbildung eines Spätstils führt – Freie Musik ist ja ein lebenslanges Experiment, dem sich ihre Helden ausgesetzt haben.

Wie unterschiedlich das Spiel an der Peripherie der Musik sein kann und wie unähnlich sich die freien Musiken der anderen europäischen Länder sind, werden die Auftritte des italienischen Duos Gianluigi Trovesi (Klarinette) und Gianni Coscia (Akkordeon) sowie des Piano-Baß-Duos von Christine Wodraschka und Yves Romain zeigen.

An fünf langen Abenden haben fast alle Ensembles eine zweite Chance – die totale Freiheit birgt das Risiko totalen Mißlingens. Wer nichts erwartet, wird viel bekommen. Nur Sitzfleisch sollte man mitbringen. Matthias R. Entreß

5.–9. November im Podewil, Klosterstraße 68–70, Mitte