Nachwuchs beleuchtet Ausbildungsmisere

■ 6.000 Lehrstellen fehlen allein in Berlin, errechneten die LandesschülerInnenvertretung und der FU-Soziologe Peter Grottian. Sie fordern mehr Ausbildung in öffentlichem Dienst und Großbetrieben und e

Nicht „nur“ 2.500, sondern 6.000 Ausbildungsplätze fehlen in Berlin. Die Differenz ist in Warteschleifen oder schulischen Maßnahmen untergebracht, die keineswegs garantieren, daß sie im kommenden Jahr Aussicht auf eine Lehrstelle haben. Schon in diesem Jahr machten sich laut DGB 12.000 Jugendliche zum zweitenmal auf die Ausbildungsssuche. 8.000 Leute stecken in mehr oder weniger aussichtsreichen „berufsvorbereitenden Maßnahmen“. Dazu kommen knapp 30.000 Arbeitslose unter 25 Jahren. 34.200 Leute unter 25 leben von Sozialhilfe.

„60.000 bis 65.000 Jugendliche werden strukturell ausgegrezt“, konstatiert der Sozialwissenschaftler Peter Grottian, der gestern im Auftrag des Komitees für Grundrechte und Demokratie und gemeinsam mit der LandesschülerInnenvertretung Berlins ersten „Alternativen Bericht zur Lehrstellen- und Ausbildungssituation“ vorstellte. „Es gibt keinen Anlaß zur Beruhigung. Es ist symptomatisch, daß weder das Arbeitsamt noch sonstwer einen vollständigen Überblick über die Arbeitsmarktlage von Jugendlichen gibt.“

Damit sich das ändert, hat der FU-Professor Grottian sich gemeinsam mit StudentInnen an die Arbeit gemacht, Statistiken gewälzt und Personalchefs befragt. Das – zugegebenermaßen nicht repräsentative – Ergebnis der berlinweiten Untersuchung ist erschütternd: Gerade Großbetriebe bauen Ausbildungsplätze ab. So bildete beispielsweise Siemens 1996 noch 192 Leute aus, jetzt sind es nur noch 158. Andere bilden überhaupt nicht aus. Besonders unzureichend sei das Engagement des öffentlichen Dienstes: Er stellt gerade einmal 4,4 Prozent aller Ausbildungsplätze. Im Bezirksamt Friedrichshain werden ganze 5 Leute ausgebildet, in Charlottenburg sind es immerhin 20.

Grottian und seine MitstreiterInnen wollen nicht auf eine Ausbildungsplatzabgabe oder andere langwierige Schritte warten. Unter dem Motto „Wer Flutopfern unbürokratisch hilft, sollte auch potentiellen Ausbildungsopfern zur Seite stehen“ fordern sie rasches Handeln: Der öffentliche Dienst solle tarifvertraglich verpflichtet werden, durch „solidarische Umverteilung“ fünf- bis zehntausend zusätzliche Ausbildungsplätze zur Verfügung zu stellen. Wer bis zum 1. Dezember keinen Ausbildungsplatz hat, soll einen „Ausbildungsscheck“ über 1.000 Mark monatlich erhalten und so seine Ausbildungsplatzvergütung selbst mitbringen. „Die 120 Millionen Mark, die das kosten würde, sind geradezu bescheiden, verglichen mit den Folgekosten“, so Grottian.

Arbeitsmarktpolitisch regte Grottian an, jungen Leuten, die länger als drei Monate arbeitslos sind, einen „Arbeitsplatzkredit“ zur Verfügung zu stellen. Damit würden sie sich über drei Jahre quasi einen Arbeitsplatz „kaufen“, wenn daraus eine Festanstellung erwächst. Das Geld soll wie beim Bafög oder vom Land zurückgezahlt werden. Da die Umsetzung der Vorschläge fürs erste nicht in Sicht ist, forderte die Gruppe kurzerhand auch die Berliner Bürger zum Handeln auf (siehe rechts). Doch dafür, daß die Initiative ihren Weg ins Abgeordnetenhaus findet, könnte zumindest eine sorgen: Sibyll Klotz, Fraktionsvorsitzende der Grünen, war zur Präsentation erschienen – wenn auch „zunächst einmal aus persönlichem Interesse“. Jeannette Goddar