■ Sie wohnen lebenslang in der „Lindenstraße“ und trauern endlos ihrer „Verbotenen Liebe“ nach: Ob „Forsthaus Falkenau“ oder „Schwarzwaldklinik“ – in deutschen Familienserien passiert viel, ohne daß wirklich etwas geschieht Von Klaudia Brunst
: Leben und leben lassen

Kaum ein Fernsehsender kann noch auf sie verzichten, wenn er Erfolg bei jungen Zuschauern haben will: tägliche Serien à la „Marienhof“ oder „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“. Sie haben den Klassikern der Familienserie – wie den legendären „Unverbesserlichen“ mit Inge Meysel oder den „Drombuschs“ mit Witta Pohl – längst den Rang abgelaufen. Doch trotz aller zur Schau gestellten Jugendlichkeit bleibt auch den modernen „Daily Soaps“, den täglichen TV-Seifenopern, nicht erspart, was schon Mutter Hesselbach umtrieb: Das wahre Leben spielt sich im geregelten Sendetakt ab. Also mit Herzschmerz und allen Verwicklungen, die ein wahres und echtes Leben nur mit sehr viel Mühe bewältigen kann – in guten wie in schlechten Zeiten

Es ist eine Binsenweisheit, daß es soviel Leben wie in den Daily Soaps gar nicht geben kann. Jeden Tag drei Handlungsstränge und nur am Wochenende Sendepause – wer hat schon einen so geregelten Alltag? Wo halten sich die guten und die schlechten Zeiten noch so die Waage?

Seit fünf Jahren ist das Original „Gute Zeiten, schlechte Zeiten“ jetzt bei RTL auf Sendung. Mehr als 1.200 Folgen Herzschmerz haben die Helden Flo, Andy, Natalie, Chrissie und Jo mittlerweile auf dem Buckel. Mit 18 Stammdarstellern ist „GZSZ“, wie Fans die Serie liebevoll nennen, noch recht übersichtlich: Der „Marienhof“, im gleichen Jahr wie die „Guten Zeiten“ als Weekly gestartet und im Januar 1995 zur Daily getuned, bringt es nach eigenen Angaben auf 79 Stammdarsteller, 400 Nebenrollen und 1.800 Komparsen.

Die Internatslegende macht's möglich: Die Figuren stehen hier in Klassenstärke zur Verfügung. Und wenn doch mal jemand zuviel ist? Kein Problem für die Drehbuchautoren der ARD-Soap. Nichts ist so alltäglich wie der Schulwechsel im laufenden Halbjahr. Die mit durchschnittlich 20 Stammdarstellern familiärer angelegten Serien à la „Verbotene Liebe“ oder „Unter uns“ haben es da schon schwerer, ihre Helden ins Abseits zu verfrachten. Da reicht es nicht, die überflüssig gewordenen Gesichter nach den Zeugnissen von der Schule zu nehmen. Im Regelfall regiert die schiere Gewalt: Die wenigsten scheiden am Ende freiwillig aus dem Serienleben.

Tatsächlich verbraucht sich ein Charakter, der im täglichen Takt gute und schlechte Zeiten erlebt, sehr rasch. Kaum einem der Darsteller (außer vielleicht den spärlich gesäten Elternfiguren) wird ein Alterungsprozeß überhaupt zugestanden.

Hier treffen sich aufs praktischste die Ziele der Serienmacher mit den Ambitionen ihrer Jungdarsteller: Während die einen darauf bedacht sind, das Durchschnittsalter ihrer Helden zielgruppengemäß niedrig zu halten, wollen die meist als Laien gecasteten Gesichtsverleiher in ihren Serienrollen sowieso nicht alt werden. Ist der TV-Teenie-Ruhm erst einmal begründet, lockt die große weite Welt mit Schauspielschule, Sangeskünsten und theatralen Charakterrollen. Andreas Elsholz und Jan Skosniok, beide ehemals die absoluten Superstars der „Guten Zeiten“, haben trotzdem das Beste wohl schon mit ihrem Serienausstieg hinter sich gebracht. Beide konnten aus ihrer TV-Bekanntheit zunächst kein Kapital schlagen: Nachdem sie GZSZ verlassen hatten, hörte man lange weder Gutes noch Schlechtes von ihnen. Man hörte praktisch gar nichts mehr.

In den Weeklys ticken die Erzähluhren anders. Langsamer. Als der Dinosaurier unter den Familienserien, die „Lindenstraße“, vor zwei Jahren sein zehnjähriges Bestehen feierte, waren gerade mal 500 Folgen abgedreht – kaum mehr als ein Wimpernschlag für eine Daily Soap.

Und doch war hier tatsächlich mindestens so „viel passiert“, wie es uns der „Marienhof“ in seinem Trailer tagtäglich marktschreierisch verheißt: Aus dem kleinen Klausi Beimer, der in der ersten „Lindenstraßen“-Folge so realitätsnah die Masern gehabt hatte, war ein junger (gesunder!) Mann geworden. Seine Mutter, „Taube“ Helga, hatte sich von ihrem Gatten Hansemann erst getrennt und dann emanzipiert, war schließlich in zweiter Ehe glücklich – und später sogar berufstätig geworden. Und selbst Tanja Schildknecht schien nach dem tragischen Tod ihrer Eltern und einer zweifelhaften Karriere als Edelnutte endlich ihre serielle Ruhe an der Seite des Hausarztes Dr. Dressler zu finden.

Viel mehr als in den Dailys läßt das Fernsehen seine Helden in den Weeklys tatsächlich in Echtzeit leben. Ganz anders als in den täglichen Angeboten, bei denen die Figuren im hektischen Vierundzwanzigstundentakt von Katastrophe zu Katastrophe hecheln müssen, atmet das Weekly doch recht gleichmäßig von Donnerstag zu Donnerstag.

Während sich das Personal der täglichen Soaps, gequält vom stetigen Druck der Cliffhangerfließbandproduktion, noch für die absurdesten dramat(urg)ischen Verrenkungen hergeben muß, haben die Figuren der Weeklys noch so etwas wie ein Grundrecht auf Entwicklungen. Und gerade weil sie es sich leisten können, diese nicht linear verlaufen zu lassen, wirken die von Woche zu Woche unterbrochenen Lebensläufe der Weeklys mithin authentischer.

Trotzdem hat auch die „Lindenstraße“ Personalprobleme. Wer sich dem Publikum erst einmal über die Jahre vertraut gemacht hat, ist nicht mehr so beweglich, wie es das Verdikt der auch hier unabdingbaren drei Handlungsstränge verlangt. Zuviel wissen wir mit den Jahren über die gestandene Backwarenverkäuferin Gaby Zenker (geb. Skabowski, verw. Zimmermann), als daß wir ihr mir nichts, dir nichts eine moralische 180-Grad-Kehrtwende abnehmen würden.

Und so muß die patente Mutter schon über mehrere Monate ihr Liebesunglück mit Gatte Andy (demzufolge er immer will, sie aber nie) in unsere Köpfe hineinproblematisieren, bevor die programmierte Katastrophe ihren Lauf nehmen darf. Und selbst dann erscheint es, mit Verlaub, doch immer noch recht konstruiert, daß Gaby sich ausgerechnet ein zweites Mal in ihren Ex-Lover, den Superfiesling Phil, verguckt haben soll.

Aber auch in der „Lindenstraße“ ist der Spielraum der Figuren eben begrenzt. In regelmäßigen Abständen begegnen sich die Aktuere wieder – und sei es nur, um sich noch einmal all jene Geschichten zu erzählen, aus denen sich das alltägliche Leben gemeinhin zusammensetzt. Denn auch im Fernsehen definiert sich die Gegenwart durch Abgrenzung: als Zwischenraum zwischen Vergangenheit und Zukunft.

Auch im Erzählduktus der Flimmerkiste ist also das „Wie war das noch?“ die Voraussetzung für das „Wie wird es weitergehen?“. Wie war das zum Beispiel damals im Mai 1985 mit Gaby und Phil? Damals, in der Wohngemeinschaft, als der arrogante Phil die unsichere Gaby verführte. Und später dann, als der grundanständige Benno sie trotz alledem heiratete, trotz des Mäxchens, das doch nicht von ihm war, und das man der Gaby bei der Hochzeit schon ganz schön ansah... Das größte Problem der „Lindenstraße“ bestehe darin, hat Hans Geißendörfer einmal erklärt, daß einem auf Dauer die Bösen und damit letztlich die Problemeverursacher ausgehen.

Wer hat schon Lust, über Jahre hinweg den J.R. der ARD abzugeben? Die Bösen verjagt man, die Guten ziehen früher oder später ein: das Gesetz der Serie.

Die dramaturgische Dynamik der Familienserien speist sich aus der steten Abwehr des Bösen, das in der deutschen Serientradition zumeist nicht Teil der Familie ist. Nur die ZDF-Serie „Das Erbe der Guldenburgs“ versuchte sich Ende der achtziger Jahre recht erfolgreich an einer Amerikanisierung des Genres, wie es die US-Vorbilder der Achtziger mit J.R. Ewing in „Dallas“ oder Alexis Colby in „Denver“ vorgemacht hatten.

Dieses internalisierte Böse hat durchaus seine Vorteile. Der Gut-Böse-Konflikt entzündet sich immer wieder aufs neue an sich selbst. Er verbraucht wenig Personal und bedarf kaum der Erläuterung. Aber trotz aller Qualitäten konnte die Biersaga mit Ruth Maria Kubitscheck als kaltherziger, intrigenfreudiger Leiterin eines Brauereiimperiums die im gleichen Sender hergestellte Weißkittelschmonzette „Schwarzwaldklinik“ zu keiner Zeit wirklich toppen.

In der deutschen Familienserie bricht das Böse im Regelfall von außen ein. Durch Krankheit oder Tod, Zwietracht oder Eifersucht, soziale Ungerechtigkeit oder – soweit Sitte und Moral das im Vorabendprogramm zulassen – auch schon mal durch sexuelle Hörigkeit.

Wie seinerzeit bei den Schölermanns, den Unverbesserlichen, den Drombuschs oder Brinkmanns der Seriengeschichte, sind auch heute noch die Bergdoktoren, Landärzte, Forstbeamten und Gymnasiallehrer selbst von den Niederungen menschlicher Triebe ausgeschlossen. Sie kommen mit dem Schicksal laut Drehbuch nur mittelbar in Berührung: Es sind ihre Kinder, Schüler oder Patienten, denen nichts Irdisches fremd ist.

Nicht den Förster von Falkenau, sondern seine Tochter treibt eine Amour fou um. Sie ist es, die sich nicht entscheiden kann zwischen ihrem braven Gatten Tobias und dem verwegenen Ballonfahrer Falko. Für ihren Vater wäre das sicher keine Frage. Ginge es nach dem Förster von Küblach, das Leben in seinem Revier würde in sanfter Demut auf der Stelle treten.

Nichts bräuchte sich zu ändern, wären da nicht die anderen, die immer alles durcheinanderbringen. Sicher hätte er auch keine neue jüngere (!) Frau, wäre die erste nicht tragisch verstorben. Und kein Enkelkind, hätte sich Andrea in der letzten Staffel nicht wider besseres Wissen mit diesem Halodri Falko eingelassen.

Nur weil der Förster einsieht, daß das Fernsehleben auch beim ZDF nur zur Hälfte aus guten Zeiten bestehen kann, hat er den einen oder anderen Schicksalsschlag zugelassen. Was nach einer gewissen Sendedauer dann unumgänglich zu seinen verwickelten Verwandtschaftsverhältnissen führte. Kaum etwas gehört im Forsthaus Falkenau nach all den Jahren noch zusammen: Die Enkeltochter Katharina ist nicht ehelich, die glückliche Förstersgattin nicht die Mutter seiner Kinder, und selbst Oma Inge hütet nicht mehr das Haus, sondern verbringt den Winter ganz emanzipiert auf Ibiza. Es ist die Ironie des Schicksals, daß die recht banalen Anforderungen des Serienbetriebs, immer wieder neue Gesichter zu präsentieren und alte gelegentlich auszutauschen, dazu führt, daß selbst aus den traditionellsten Familienkonstellation im Laufe der Zeit moderne Patchwork-Familien werden.

Manchmal muß dann aber doch der Held selbst dran glauben. Wenn der „Bergdoktor“ mit seinem Publikum alt geworden ist und nur mehr dem Silbersee gefällt, die Werbekunden aber junge Bergfrische gebucht haben, dann muß man den Bergdoktor unter der Lawine seines Erfolges begraben. Oder wenn der Darsteller des Landarztes eines Tages keine Lust mehr auf sein Arzttäschchen hat, dann fährt er eben mit dem Auto vor einen Baum. Der Tod ist allgegenwärtig im deutschen Serienleben.

Nur Professor Brinkmann aus der „Schwarzwaldklinik“ überlebte erstaunlicherweise seine eigene Quotenbeerdigung. Statt das angestammte Format neu zu justieren, schickte der Sender einfach Wussow-TV-Sohn Sascha Hehn mit einer neuen, eigenen Serie ins Rennen, die dem Vorläufer stilistisch aber so ähnlich ist, daß die „Schwarzwaldklinik“-Fans den Unterschied kaum beklagen werden.

Als Dr. Merthin macht Sascha Hehn seinem Formatvater jedenfalls alle Ehre. Zwar leiden die Dramen und Konflikte der Geburtsheilkundeserie noch nicht so sehr an der altersbedingten Gelenkverkalkung wie zum Schluß der Vorläufer „Schwarzwaldklinik“, denn der Frauenarzt ist von den grauen Schläfen noch ein paar Jährchen entfernt. Trotzdem möchte man doch meinen, so schöne Sätze wie „Wissen Sie, Katja, ich bin schon so lange Arzt. Ich sehe das den Frauen an den Augen an“ können eigentlich nur von Professor Brinkmann sein.

Manche Helden sterben eben nicht mal nach Drehschluß. Andere sind einfach nicht totzukriegen. Als die ARD-Soap „Verbotene Liebe“ im Januar 1995 auf Sendung ging, debütierte die Serie mit dem geradezu klassischen Drama um das Zwillingspaar Julia und Jan, das sich ineinander verliebte, ohne um die Blutsverwandtschaft zu wissen. Daß die Storyliner mit diesem Plot den einen oder anderen Monat verbringen würden, war wohl allen Beteiligten klar. Daß Jan und Julia zu Jahresbeginn 1997 immer noch nicht von einander lassen konnten, erstaunt den Laien dann schon. Daß die schöne Julia ihrem Bruder aber selbst über ihren traurigen Wassertod hinaus noch regelmäßig erscheinen würde, grenzt dann doch an ein Wunder. An so etwas können dann nur noch Fachleute glauben.

Vorabdruck aus: Programmbericht zur Lage und Entwicklung des Fernsehens in Deutschland 1996/97, hrsg. von der Arbeitsgemeinschaft der Landesmedienanstalten, 352 S., Ullstein-Verlag, Berlin 1997, 48 Mark