Briefe aus dem Judenhaus 1933-1939

■ Der frühere Präsident der Bremer Landeszentralbank, Prof. Kurt Nemitz, erzählt von seinen Vaters Julius Moses / Moses war in der Weimarer Republik Reichstagsabgeordneter / 1942 wurde er im KZ Theresienstadt ermordet / Der Briefwechsel zwischen dem Vater und seinem ältesten Sohn Erwin, der 1933 nach Tel Aviv emigrierte, erschien jetzt

taz: Wann begann Ihr Vater, die Mappen mit den Briefen anzulegen?

Nemitz: Die Arbeit an den Mappen begann unmittelbar nach 1933. Julius Moses konnte ja nicht arbeiten, war praktisch stillgelegt, und so sind 69 Mappen im Laufe der Jahre entstanden. Heute bewundere ich die Voraussicht, die er hatte. Viele von den Texten sind für die Zukunft angelegt. Er hat sich bewußt vorgestellt , wie spätere Leser– Nachkommen, vielleicht aber auch andere– lesen und verstehen, was damals war.

Die meisten Briefe und Texte sind nach 1935 im sogenannten Judenhaus entstanden.

Ja, und dort hat er nur ein Zimmer gehabt: einen Schreibtisch, ein Bett und den Rest Bücher. Die Wände waren voller Regale, wie das bei Intellektuellen so ist. Dort hat er geschrieben. Er ist im Schreiben ganz aufgegangen. Das war sein Glück. Durch seine Schreiblust ist sein Gedächtnis erhalten geblieben. Er hat jede Woche einen Brief geschrieben.

Das erinnert an Viktor Klemperer...

Ja, mir liegt viel an der Parallelität zu Klemperer. Interessant ist auch der Unterschied. Klemperer führt ja ein geheimes Tagebuch und schreibt alles rein, was gewesen ist. Und der Moses weiß, daß die Zensur allmächtig ist. Aber er will ja Briefe schicken. Deshalb steht vieles zwischen den Zeilen.

Wie konnten die Mappen den Nationalsozialismus überdauern, ohne daß die SS oder Gestapo sie vernichtet haben?

Als Kind bin ich fast jeden Tag nach der Schule zu meinem Vater ins Judenhaus gegangen und da hat er gesagt: „Ach, nimm mal die Mappe hier mit.“So habe ich in meiner Schultasche Mäppchen für Mäppchen mitgenommen.

Und dann?

Ich habe sie nach Köpenick gebracht. Da hat meine Großmutter Anna Nemitz ihr Häuschen gehabt. Sie war übrigens auch Reichstagsabgeordnete. Großmutter ist eine ganz kleine Frau gewesen– drahtig, mutig. Sie hat diese ganzen Mappen in Kisten gepackt, in den Heizungskeller gebracht. Unter einem Kokshaufen haben sie die Nazizeit überdauert.

Im Buch sind auch viele Briefe abgedruckt, die Ihr Vater an seinen Sohn Erwin nach Tel Aviv schrieb.

Die hat Erwin in Tel Aviv gesammelt. Er hat als erstes einen Leitz-Ordner angelegt und die Briefe, die ankamen, systematisch darin gesammelt. Wie man das so macht als echter Deutscher.

Ist Ihr Vater eigentlich mit den Jahren vereinsamt?

Nein, er hatte einen festen Freundeskreis. Zu seinem 70. Geburtstag 1938 kamen 51 Besucher. Man muß sich das mal vorstellen. Ins Judenhaus! Sein bester Freund war Paul Löbe, der frühere Präsident des Reichstags. Und Louise Schröder, später bekannt als Berliner Oberbürgermeisterin. Die haben alle zusammengehalten.

Traf er sich noch mit anderen Politikern aus der Weimarer Zeit?

Legendär waren in Berlin immer die Beerdigungen. Dort trafen sich die alten, ehemaligen Politiker. Natürlich war die Gestapo auch da. Vor ihren Augen hat man sich durch Blickkontakt oder kurzen Handschlag verständigt, und so weiter die Verbindung aufrechterhalten. Das sind Dinge, die sind heute weitgehend vergessen.

Also eine Form von stillem Widerstand...

Es hat Inseln der Menschlichkeit gegeben, besonders in Berlin, in den großen Städten. Sie reichten natürlich nur so lange bis der Terror begann, Anfang der 40er Jahre.

Hatte Ihr Vater noch Alltagsvergnügen?

Ja, er war zum Beispiel bis in die Jahre, also über 38 hinaus, in einer Skatrunde, bei der er sich mit einfachen Leuten traf– wie dem Kohlenhändler Schmidt. Die haben weiter Skat gekloppt, ob da Nazis waren oder nicht.

Und wie ertrug Ihr Vater die Zeit im Judenhaus?

Er war immer ein Mann mit Humor und hat immer Haltung bewahrt. Bis zum Letzten. Er hat als Arzt die Leute getröstet. Ich persönlich war oft dabei, wenn Mütterchen zu ihm gekommen sind und geweint haben über ihr Schicksal. Die hatten einen Brief bekommen: Abtransport.

Brach denn sein Optimismus nie zusammen?

Ich habe ihn nie weinen sehen. Erst später habe ich von einem Weinkrampf im Jahre 1941 erfahren. Im Judenhaus wohnte ein Dr. Pinneas, der war Nervenarzt. Er hat die Szene geschildert. Moses hatte über seinen Freund Löbe den Brief eines deutschen Soldaten erhalten, der schilderte, wie jüdische Frauen in einer russischen Kleinstadt ihr eigenes Grab schaufeln mußten und später erschossen wurden.

War er nach diesem Erlebnis verändert?

Nein, er war bis zum Schluß ganz fest der Überzeugung, daß die Sache bald zu Ende geht. Daß der Krieg irgendwann im Lauf der nächsten Jahre zu Ende sein wird, und daß der Nazismus untergeht. Das war für ihn völlig klar.

In seinen Briefen spricht Moses oft über den Tod. Haben Sie als Kind und Jugendlicher nicht auch Schwere bemerkt?

Das habe ich als Kind natürlich nicht so erfahren. Das begreift man erst jetzt bei der Lektüre, wenn man älter wird. Mir hat er das damals nicht gezeigt.

Obwohl die Bedrohung immer deutlicher wurde, dachte Moses nie an Auswanderung. Warum?

Er war schon über 65 als die Nazis kamen. Und er war humanistisch gebildet wie viele Akademiker. Also: Fließend Griechisch, lateinisch, aber kein englisch – keine moderne Sprache. Drittens war der Freundeskreis sehr groß, damals. Aber besonders das Alter muß man sehen. Die Angst vor der Umstellung hat viele in diesem Alter bewogen, dazubleiben.

Hat er als Politiker die Gefahr der NSDAP vor '33 erkannt?

Heute wird ja immer gesagt, niemand konnte das wissen. Moses hat zu denjenigen gehört, die ab 1929 gegen die Nazis eingestellt waren. Er hat Reden gehalten, die dokumentiert sind. „Wenn die Nazis an die Macht kommen, werden sie auf dem Gebiet der Gesundheitspolitik das sogenannte 'lebensunwerte Leben' vernichten“, hat er ab 1930 öffentlich auf Kundgebungen gesagt. Es ging dabei um die Euthanasie, die ja später kommen würde. Als Politiker war das sein Spezialgebiet.

Moses wurde 1942 als 75jähriger nach Theresienstadt deportiert. Wie und wann haben Sie erfahren, daß Ihr Vater in Theresienstadt umkam?

Nach dem Krieg. Wir habe es durch Hermann Wolff erfahren, der während seiner Todeszeit bei ihm war. Wolff ist nach '45 zurückgekehrt und hat mir seinen Bericht zugeschickt. Später habe ich dann auch aus Theresienstadt eine Kopie der Sterbeurkunde mit Datum und genauer Bezeichnung erhalten.

Der Kontakt mit Ihrem Halbbruder Erwin riß 1939 mit Beginn des Krieges ab. Wie ging es nach dem Kriege weiter?

Ich habe gleich nach '45 wieder Kontakt aufgenommen. Und seitdem stehen wir in enger Verbindung. Für den israelischen Teil der Familie sind die Briefe und das Buch natürlich ganz besonders spannend. Die lesen jetzt ihre Kindheit und Familiengeschichte nach. Nun fragen die Enkel, ob man die Briefe nicht auch ins hebräische übersetzen könnte.

Wie haben Sie selbst die Nazizeit als Halbjude überstanden?

Weil ich unter die Nürnberger Gesetze fiel, bin ich nicht - wie meine Schulkameraden - als Soldat eingezogen worden. Der Arbeitsdienst wollte mich auch nicht haben. Aber ich bin in den letzten A-biturtermin reingekommen, obwohl ich schon längst aus der Schule hätte rausfliegen müssen. Der Direktor dieser Schule, an der ich war in Berlin, hieß Dr. Sange und war ein Deutsch-Nationaler. Er trug immer diesen eckigen Kragen...

Einen Vatermörder?

Ja, genau. Dr. Sange hat das alles nicht gefallen. Der hat sich meiner Mutter mal anvertraut. „Sie müssen folgendes Wissen. Bei mir an der Schule zählt nur die schulische Leistung. Mehr kann ich ihnen nicht sagen.“Wie ich schon sagte: Es gab Inseln.

War es für Sie schwierig nach dem Kriege die Bundesrepublik als Politiker mitaufzubauen? Sie arbeiteten ab 1956 in der Staatskanzelei Nordrhein-Westfalen.

Nach '45 war es selbstverständlich, die Verfolgten zu ehren und an sie zu erinnern. Die erste Generation war noch die Generation, die alles miterlebt hat. Die waren sehr aufmerksam. Wir sind dann gemeinsam an den Aufbau gegangen und waren schwer beschäftigt. In der Zeit ist das Interesse auch weitgehend verflogen. Aber in den letzten Jahren hat es wieder zugenommen.

Dieter Fricke: Jüdisches Leben in Berlin und Tel Aviv 1933 bis 1939. Der Briefwechsel des ehemaligen Reichstagsabgeordneten Dr. Julius Moses, Bockel Verlag 1997.