"Lebendig soll es zugehen"

■ "Die Visualität der Antworten wird verschwindend sein" - Gespräch mit dem Konzeptkünstler Jochen Gerz über seinen Entwurf für das Holocaust-Mahnmal. 100 Jahre lang werden Antworten auf die Frage "Warum?" gesamme

taz: Herr Gerz, vor zwei Jahren haben Sie vorgeschlagen, daß Helmut Kohl das Denkmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin bauen solle. Ihre Kritik richtete sich an die Auslober, die das Gedenken bei Künstlern in Auftrag geben. Jetzt sind Sie selbst für die Realisierung des Mahnmals ausgewählt worden. Woher kommt der plötzliche Sinneswandel?

Jochen Gerz: Der Diskurs hat sich verändert. Die Rezeptionsgeschichte der Shoah, gerade im Kontext mit plastischen Arbeiten, also Denkmälern, ist heute anders. Der Förderverein hat neue Prioritäten gesetzt, die Auslober haben andere Vorstellungen davon, was ein Mahnmal bewirken soll. Ich will nicht für den Kanzler sprechen, aber der Bundestag hat seine Sicht geändert, sogar der Senat. Trotzdem ist das relativ: Ich sitze ja nicht in archimedischer Distanz und gucke mir da unten die Erde an. Ich habe bisher keine Einleitungen für Bücher über das Gedenken geschrieben oder Eröffnungen gemacht. Ich habe diese Dinge selbst gebaut und weiß, wie schwer es ist, das zu realisieren.

Tatsächlich sind entscheidende Impulse beim Fortgang der Debatte um das Mahnmal von Bonn ausgegangen. Der SPD-Abgeordnete Peter Conradi hat sich in der Diskussion dafür eingesetzt, daß die Öffentlichkeit bei der Entscheidungsfindung mit einbezogen wird. Spiegelt sich diese Initiative in dem neuen Verfahren wider?

Gut, daß Conradi das fordert – ich sage Ihnen, in meiner Arbeit ist die Öffentlichkeit gefordert. Diese Arbeit wird nicht geschehen, wenn nicht eine Stiftung des Bundestages geschaffen wird. Meine Arbeit wird nicht entstehen, wenn nicht die Veränderung der Diskussion und dieses Platzes jeden Tag neu realisiert wird.

Der Förderverein um Lea Rosh hat sich für Ihren Entwurf stark gemacht, weil Sie eine stärkere Bürgerbeteiligung suchen. Dabei hatte gerade Frau Rosh zunächst für die 100 x 100 Meter große Grabplatte von Christine Jakob- Marcks plädiert. Wie kommt es, daß nun der Wunsch nach Monumentalität mit der Idee zusammengeht, über den Holocaust zu sprechen?

Ziehen wir nicht am gleichen Strang? Es gibt einen Satz aus einer amerikanischen Kritik zur Entwicklung rund um das Mahnmal, wo es heißt, daß die Deutschen inzwischen kompetenter im Umgang mit jüdischen Denkmälern sind, als sie es beim Töten von Juden waren. Ich glaube, es gibt da auch eine Grenze der diskursiven Haarspalterei. Es ist durchaus möglich, daß Herr Conradi oder Frau Rosh in ihrem tiefsten Inneren eine andere Meinung zum Holocaust-Mahnmal haben als ich. Das halte ich auch für wünschenswert. Ich möchte schließlich nicht eine neue politische Partei oder eine neue Antifaschismus KG gründen. Wenn man die Beweglichkeit will, darf man nicht ständig von der Sehnsucht nach dem Einzig und Alleinigen heimgesucht werden. Ich bin sehr glücklich über die widerstreitenden Kräfte in der Diskussion um das Holocaust-Mahnmal, aber es gibt in der Diskussion auch eine Selbstverliebtheit, die das eigene Tun ausblendet.

Auf den drei Kolloquien im Vorfeld herrschte immerhin weitgehend Konsens darüber, daß man auf die monumentale Fläche verzichten solle. Nun wird das Mahnmal wieder 20.000 qm groß.

Das halte ich für die größte Leistung des Auftrags. Stellen Sie sich vor, in London, New York oder Paris gäbe es eine nationale Schande, und man würde einen solchen Platz zur Verfügung stellen. Da wären wir die ersten, die sagen würden: Hut ab, was ist da passiert. Man kann wirklich alles permanent kritisieren, ohne dabei neue Perspektiven zu entwickeln. Ich halte die Größe des Platzes für eine Chance – denn er rettet mich auch nicht vor der komischen Referenz: Baumeister Albert Speer. Deshalb muß ich etwas dagegen tun. Bei mir ist es die Zeit, die ich als zweite Koordinate in ein Verhältnis zum Raum bringe. Indem ich 50 oder gar 100 Jahre Zeitaufwand bei der Realisierung der Antworten auf die Frage „Warum ist es geschehen?“ mit einplane, wird damit auch etwas gegen das Diktat des Raumes installiert. Danach wird auch dieser als kleiner empfunden werden können.

Ihr Entwurf sucht nach aktuellen Zeitbezügen und konfrontiert den Besucher dreimal – auf den Lichtmasten, im Gebäude „das Ohr“ und bei den Antworten – mit dem Gedenken. Läßt sich in der Interaktivität, mit dem Durchlauf, der gedankliche Prozeß überhaupt abbilden?

Es ist schon als Wäscherei, als Initiation und Trainingslager gedacht. Die Leute kommen da nicht wie in einer Quizshow zu ihrer Antwort, sondern sie haben erst einmal eine intensive, durchaus sakrale, vor allem aber inhaltliche Selbstöffnung vor sich.

Kann Gedenken in Form von Information funktionieren?

Ich kann die Toten nicht wieder lebendig machen oder sie gesundweinen. Ich sitze hier 50 Jahre später und muß mir etwas einfallen lassen, um die Rückkehr des Gestrigen abzuwehren. Damit befinde ich mich in der Tradition der künstlerischen Avantgarde dieses Jahrhunderts und nicht in einer Spezialistenecke. Es geht um den Kampf der Moderne. Wir können unsere Gegenwärtigkeit für nichts in der Welt weggeben. Es muß ein neuer Ort entstehen.

Offenbar geht es Ihnen auch um einen Generationenvertrag: Der Entwurf wurde von mehreren Teams erarbeitet, später sollen Studenten und junge Stipendiaten aus Israel bei der Dokumentation der Antworten helfen. Gehörte die Gruppenarbeit von Anfang an zu Ihrem Konzept?

Ich suche Autoren, ich möchte den Kitsch des genialen Künstlers, diese Verkürzung, durch den Betrachter bereichern. Ich möchte nicht den Künstler rausschmeißen, aber für mich ist der Plural von heute der künftige Singular – das heißt: Alles ist Fragment und Teil, zumindest vielschichtig. Es geht darum, mit dem Haus und dem Platz eine Skulptur der Veränderungen zu schaffen, keine literarische Metapher, sondern eine reale Skulptur. Lebendig soll es auf dem Platz vor allem zugehen.

Bisher haben Ihre Arbeiten den Gegenstand zum Verschwinden gebracht, hier nun wird die Information als Gravur zum Material auf dem Platz.

In Hamburg haben wir 70.000 Unterschriften gegen den Faschismus gesammelt, die im Boden verschwanden; in Saarbrücken die Namen von 2.146 jüdischen Friedhöfen, die unsichtbar waren unter dem Pflaster. Das Geniale an der Schrift ist, daß sie ein so homöopathisches Verfahren der Materialisierung ist. Wenn der Platz eines Tages ausgefüllt ist, und Sie stehen dort, dann stellt sich spätestens im Abstand von zehn Metern das Gefühl ein, der Platz sei leer. Und dieses Leersein nach all der jahrzehntelangen Mühe, Antworten in den Stein zu fräsen, wird eine Emotionalisierung leisten, die nur ein Werk im Werden erschafft. Davon kann ich als Künstler sprechen. Die Leere der Arbeit am Schluß wird bleiben, aber in einer eklatanten Diskrepanz zu dem stehen, was man weiß. Wenn der Mensch vor der Abwesenheit steht, dann muß er darüber sprechen.

Trotzdem bleibt Ihr Entwurf uneins, was die Wirkung betrifft: Alles dreht sich um Antworten und Publikumsbeteiligung, wo Trauer und Gedenken doch eher nach Schweigen verlangen.

Ich möchte das neu bestimmen, nichts kann einfach schon geschehen sein. Wir müssen die Bedingungen für unser Schweigen, für unsere eigene Emotion und Vergeblichkeit jeden Tag neu erschaffen. Man darf nicht die Geschichte an unserer Statt diese Bedingungen schaffen lassen. Es geht darum, die Rituale des Vergessens zu durchbrechen. Diese Formel Genozid = frommes Schweigen in einem Parkeckchen ist für mich unausstehlich. Die Visualität der Antworten wird verschwindend sein, ein Defizit. Aber dieses Defizit wird die Leute mehr dazu bringen, darüber zu sprechen, als es die beste traditionelle Skulptur vermag.

Sie haben einmal im Interview mit der taz gesagt, daß Sie gegenüber Sprache skeptisch sind, weil die Worte erst erfunden wurden, als es das Phänomen schon gab. Wie können Sie mit dieser Skepsis in Berlin noch konkret arbeiten?

Es gibt naive Menschen, die sagen: Aber man kann die Frage nach dem Warum doch nicht beantworten. Das ist, wie wenn jemand am ersten Tag seines Lebens sagen würde: Aber man kann doch das Sterben nicht verhindern. Wir leben trotzdem, und nur die Fragen sind uns teuer, die wir nicht beantworten können. Insofern wird meine Frage auch durch die Millionen Antworten nicht reduziert und in keiner Weise relativiert. Aber es wird mit ihr gezeigt, daß der Mensch fähig ist, etwas zu tun, was er nicht kann – etwas zu tun, was nicht sinnvoll ist; etwas zu tun, was über ihn hinausgeht. Das ist für mich Courage, Revolte, das Herz des Widerstands. Wir tun etwas und haben doch im Moment keine Chance. Darum ist der Platz für das Mahnmal ein Platz der Vergeblichkeit, der Erinnerung und zugleich ein Platz der menschlichen Schönheit.

In Biron hat das von Ihnen konzipierte Kriegerdenkmal die Leute durch deren Kommentare und Erinnerungen zusammengeführt. Wen können sie in Berlin zusammenführen?

Der Platz ist für mich weder Berliner noch deutscher Privatbesitz. Die Leute ahnen gar nicht, wie sehr man im Ausland auf diesen Platz in Deutschland wartet. Zuerst möchte ich Menschen in Europa das Gefühl für diesen komischen anderen Kontinent zurückgeben, der vor dem Krieg da war. Durch die Metapher der jüdischen Sprachen wird ein ganz anderes Gewicht auf den Osten fallen. Viele Sprachen kannte ich vor meiner Recherche nicht, nicht einmal ihre Namen. Zum zweiten möchte ich aber auch, daß Täteridentität und Opferidentität sich an einer Stelle treffen. An dem Platz wird ja nicht stehen: Ich bin ein Opfer, sondern: Ich bin ein Mensch. Ich möchte auch, daß die Menschen aus Amerika oder Israel hinter ihrer neuen Identität ihre alte europäische und letztlich verbindende Identität wiedererkennen.

Apropos Kunst und politische Symbole: 1982 war Joseph Beuys der erste, der eine seiner 7.000 Eichen zur documenta gepflanzt hat. Falls nun Ihr Entwurf realisiert werden sollte – werden auch Sie dann die erste Antwort geben?

Nein, ich werde nicht die erste Antwort geben. Ich komme mir eher vor wie bei dem Mahnmal für Hamburg. Da standen Esther Shalev-Gerz und ich zwei Stunden nach der Eröffnung neben der Arbeit, um zu sehen, was die Leute tun. In dieser Zeit haben wir dieses und eben auch jenes gehört, etwa: Der Schornstein ist ja ganz schön, er müßte nur noch rauchen. Am Schluß sind wir hingegangen und haben unterzeichnet. Das heißt für mich: Konzepte sind schön, die Realität ist aber was ganz anderes. Am Schluß kommt man an einen Punkt, wo man sich fragt: Hast du wirklich gewußt, was du gewollt hast? Und hast du gewollt, was du gewußt hast? Dann ist es schon spät, aber das ist das Schöne am Tun, daß man es durch nichts ersetzen kann. Ich habe mir immer nur die Frage gestellt. Irgendwann kommt der Punkt, vielleicht ein halbes Jahr später, daß ich nach Berlin zurückwill, um eine Antwort zu geben. Im Moment bin ich wie blind. Interview: Harald Fricke