Ohne Fotos keine Trauer

Zwischen Prominenten und Paparazzi gab es schon immer eine symbiotische Beziehung  ■ Von P.J. Griffiths

Inmitten des Deliriums über Dianas Tod mag das Geständnis unklug sein, daß ich für meinen Lebensunterhalt und ohne vorher um Erlaubnis zu fragen Menschen fotografiere. Natürlich versuche ich mein Möglichstes, unauffällig und nicht bedrohlich aufzutreten und Rücksicht auf Gefühle zu nehmen. Das heißt, daß ich dem Fotoapparat schon manches Mal die Chance auf ein gutes Bild vergab. Dafür bin ich aber auch nie von den von mir fotografierten Menschen beschimpft oder vor Gericht zitiert worden. Im Prinzip haben mich immer nur jene beschimpft, die meinten, ich hätte sie nicht oder nicht genug fotografiert. Das ist ziemlich normal. Die Leute lieben es, fotografiert zu werden.

Ich halte mich für einen privilegierten Beobachter, der aufzeichnet, was die Menschen tun, der soziales Verhalten, politische Vorgänge und manchmal auch einen Krieg dokumentiert. Ich bemühe mich, mich in Situationen einzufühlen, und bin bereit, von ihnen zu lernen. Da ich mich nun mal nicht unsichtbar machen kann, versuche ich wenigstens, verständnisvoll aufzutreten. Wollte ich bei jeder Aufnahme um Erlaubnis fragen, bevor ich auf den Auslöser drücke, würde sich der Betreffende sofort anders verhalten und sich in Pose werfen, was beim Betrachter den Verdacht auf „Schauspielerei“ auslöst – und jedes Bild wertlos macht.

Fotografie ist eine an sich bedeutungsarme Kunst und frei von Anspruch auf Wahrheit. Doch die Leute glauben den Bildern: Sie halten sie für wahr, und daraus entsteht ihre Macht. In unseren Pässen haben wir Fotos, keine Zeichnungen, und George Bernard Shaw sagte einmal, er gebe gern jedes Gemälde Christi für einen Schnappschuß von ihm. Die Fähigkeit eines Fotos, beispielsweise von Henri Cartier-Bresson, uns zu fesseln, aufzuklären und zu informieren, hängt davon ab, daß es „wirkliches Leben“ zeigt, auf das sich der Betrachter beziehen kann, und nicht irgendwelche Modelle, die so „tun als ob“.

Die Gesellschaft abzubilden, mit all ihren Fehlern und Schwächen, drängt den Fotografen schnell in die unpopuläre Rolle des Kritikers. Unpopulär bei denen, die Verantwortung tragen für die Gesellschaft, wie sie ist, populär dagegen bei allen, die den Ist-Zustand kritisieren. Die Lord Wakehams [z.Zt. beschäftigt mit der Ausarbeitung eines strengeren Pressegesetzes in Hinsicht auf die Unverletzbarkeit der Privatsphäre in Großbritannien; Anm.d.Ü.] zu Hogarths Zeiten haben, denke ich, auch eifrig nach Mitteln und Wegen gesucht, ihn davon abzuhalten, die Not der Entrechteten zu zeigen – sie haben allerdings nicht, soviel ich weiß, auf das Recht der Unverletzlichkeit ihrer Privatsphäre gepocht!

Heutzutage sind die „potentesten“ Medien fest im Griff multinationaler Unternehmen, die darüber verfügen, was wir sehen und hören. Seit demokratische Gesellschaften die „Pressefreiheit“ in ihren Verfassungen verankert haben, ist es peinlich geworden, bei der Zensur der Nachrichtenbeschaffung erwischt zu werden. Durch Medienbesitz – und, wie man sagt, die Pressefreiheit gehört denen, die ein Medium besitzen – können Nachrichtengiganten jedoch durch die Art der Präsentation die Nachrichten auf die eigenen Bedürfnisse hin verzerren und beschneiden.

Unser Denken wird in zunehmendem Maße von Bildern manipuliert, die uns unterwerfen sollen. Deshalb ist die Notwendigkeit unabhängiger Beobachter und Kritiker zwingender denn je. In Sachen Diana sind die Medienzaren ausgerutscht und wollen jetzt um so eifriger den Eindruck erwecken, daß sie die von Lord Wakeham vorgeschlagenen Regeln der Selbstbeschränkung selbstverständlich zu beachten gedenken. Das werden sie natürlich nicht tun. Denn ein derartiger Ethos kollidiert mit ihren Profitinteressen. Seit wann hätten etwa Achtung und Respekt für die britische Königsfamilie Murdoch zu Reichtümern verholfen? Von Wakehams Vorschlägen betroffen werden eher alle unabhängigen Beobachter sein, die im Besitz eines Fotoapparats sind – alles im Namen des Schutzes der Privatsphäre.

Die wahren Verletzer der Privatsphäre sind Regierungen und Großkapital. Die Supercomputer von Visa und American Express hätten immer schon vor uns gewußt, wofür Di und Dodi, hätten sie überlebt, gerade ihr Geld ausgeben – und diese Information an den Meistbietenden verkauft. Auf jeden, der von einem Paparazzo verfolgt wird, kommen eine Million Menschen, die von der Polizei in ihren Autos fotografiert werden, und zehn Millionen, die in Banken und öffentlichen Gebäuden auf Video gebannt werden. Keiner von ihnen wollte aufgenommen werden – im Unterschied zu den „Opfern“ der Paparazzi. Die beschäftigen sogar PR-Manager, um sicherzustellen, daß zur rechten Zeit am rechten Ort Fotografen zur Stelle sind.

Zwischen diesen Prominenten und den Paparazzi gab es schon immer eine symbiotische Beziehung. Ohne diese wäre heutzutage kein Prominenter prominent. Es gilt: Je mehr Fotos, desto größer der Ruhm und die Macht. Man sollte nicht vergessen, daß zwischen den Kubikmetern von Beileidssträußen vor dem Palast und den Quadratmetern Fotos von der Prinzessin zu Lebzeiten ein direkter Zusammenhang besteht. Die Medien haben die Öffentlichkeit mit einer Flut an Publicity verführt und damit einen Appetit erzeugt, der nur von immer waghalsigeren Paparazzi-Produktionen gestillt werden konnte – was wiederum die Auflage erhöhte und damit die Tresore der Medienbesitzer füllte; ein Kreislauf, an dem jeder mit Gewinn beteiligt war.

Dianas Tod verlangt nach einem Sündenbock. Und obwohl das Urteil noch aussteht, sind die angeklagten Fotografen schon schuldig gesprochen, es sei denn, sie können die Zweifel an ihrer Unschuld ausräumen. Einer von ihnen ist – Ironie der Geschichte – ein Kollege, der sein Leben riskierte, um die Opfer der kambodschanischen Minenfelder zu fotografieren.

Lord Wakehams Vorschläge zum Schutz der Privatsphäre sind teilweise absurd: So sollen unter anderem öffentliche Strände als „private Orte“ definiert werden. Das könnte jeden Strand zu einem wahrhaft interessanten Ort machen, fänden sich nur jeweils genügend Exhibitionisten im sexualstrafrechtlich mündigen Alter zusammen... Wakehams Vorschläge sind falsche Antworten auf falsch gestellte Fragen. Was Privatsphäre ist, scheint mir ziemlich eindeutig: Sie ist dort, wo man sich an einem privaten Ort aufhält, nicht an einem öffentlichen. Britisches Recht erkennt dies (bisher noch) an, insofern es kein spezifisches Vergehen namens „Verletzung der Privatsphäre“ gibt, sondern lediglich „Hausfriedensbruch“.

Für Fotografen heißt das, daß alles, was „öffentlich sichtbar“ stattfindet, veröffentlicht werden kann, was sich „privat“ abspielt jedoch einer ausdrücklichen Genehmigung bedarf. Diese Logik scheint mir klar und eindeutig: Wer bei offenen Gardinen Sex hat, verliert das Recht auf seine Privatsphäre; er hätte keine Chance, gegen einen gerade vorbeikommenden Fotografen, der ihn dabei aufnimmt, vor Gericht zu gewinnen. Falls aber ein Fotograf ins Haus einbräche, um dort zu fotografieren, käme der wegen Hausfriedensbruch vor Gericht – was unser aller Beifall fände.

Philip Jones Griffiths fotografiert seit 1961 professionell und war unter anderem im Vietnam- und Yom-Kippur- Krieg. Er war lange Präsident der Agentur Magnum.