Ärzteverbrechen ohne Verbrecher

Mediziner und deren Helfer erstickten zwischen 1939 und 1941 insgesamt mehr als 70.000 Patienten in sechs eigens dafür hergerichteten Anstalten mit Gas – außer im württembergischen Grafeneck noch in Brandenburg an der Havel, Hartheim bei Linz, Sonnenstein bei Pirna, Bernburg an der Saale und Hadamar bei Limburg an der Lahn.

In Grafeneck wurden 10.654 Menschen ermordet: 3.884 aus württembergischen Anstalten, 4.451 aus badischen, 1.864 aus bayerischen Anstalten sowie 455 PatientInnen aus der an der holländischen Grenze gelegenen Anstalt Bedburg-Hau. Offiziell wurden die Krankenmorde, insbesondere wegen zahlreicher Proteste von Vertretern der katholischen und (seltener) der evangelischen Kirche, im August 1941 eingestellt. Dennoch wurde weiter euthanasiert – unter noch strengerer Geheimhaltung. In vielen Heilanstalten wurden Behinderte nun an Ort und Stelle zu Tode gespritzt oder gehungert.

Im Nürnberger Ärzteprozeß ging die Anklage von 275.000 Euthanasieermordeten aus. Die Justiz hatte, je länger das Morden dauerte, nicht nur auf höchster Ebene Kenntnis von den Verbrechen. So wurden im Frühjahr 1941 die Oberlandesgerichtspräsidenten und Generalstaatsanwälte durch den Reichsjustizminister von der „Vernichtung lebensunwerten Lebens“ unterrichtet. Zudem waren zahlreiche Strafanzeigen eingegangen, die sämtlich niedergeschlagen wurden.

Die erste juristische Aufarbeitung der Patientenmorde war der sogenannte Grafeneck-Prozeß, der am 8. Juni 1949 vor dem Tübinger Schwurgericht im Rittersaal des Schlosses eröffnet wurde. „Der Fall der 10.654 Tötungen hat rund 35 Zuhörer in den Rittersaal gelockt“, titelte damals sarkastisch das Schwäbische Tagblatt wegen des geringen öffentlichen Interesses. Die Urteile fielen milde aus: Den 31 Jahren Zuchthaus, die von der Staatsanwaltschaft für alle acht Angeklagten beantragt worden waren, standen gerade noch achteinhalb Jahre Gefängnis gegenüber, die die Richter tatsächlich verhängten. Die Mörder konnten auf die juristische Blindheit der „Vergangenheitspolitik“ (Norbert Frei) hoffen, die in der Nachkriegszeit für die meisten Karriere- und Gesinnungsnazis galt.

Andere Ärzte, die ebenfalls an den Euthanasieverbrechen mitwirkten, wurden deshalb gar nicht erst vor Gericht gestellt. Der berüchtigte Dr. Horst Schumann, der 1940 erst die Tötungsanstalt Grafeneck, danach die von Sonnenstein bei Pirna leitete und später in Auschwitz mit Häftlingen experimentierte, konnte bis 1951 in Gladbeck unbehelligt seinen Beruf ausüben.

Als er aufflog, konnte er sich ins Ausland absetzen. 1966 lieferte ihn Ghana an die Bundesrepublik aus. Im Herbst 1970 begann gegen ihn in Frankfurt ein Strafverfahren, das im darauffolgenden April wegen Schumanns angeblicher Verhandlungsunfähigkeit eingestellt wurde. (Hinterher berichteten seine Zellengenossen, wie der Häftling seinen Blutdruck künstlich in die Höhe getrieben hatte.)

Im Sommer 1972 wurde Schumann nach Hause entlassen. Am 5. Mai 1983 starb er, ohne daß er je für seine Taten mit einer Gefängnisstrafe büßen mußte. hjl