Realistischer Romantizismus

■ Parolenmusik der Innerlichkeit: Die Hamburger Band „Brüllen“

Der Realist braucht mehr als jeder andere die Verschlüsselung, denn er weiß, was er zu verlieren hat, wenn er ausspricht, was ist.

Der Romantiker sucht verzweifelt nach Regeln, denn er braucht etwas Festes im Fluß der Zeit, das er für sich behalten kann.

Kristof Schreuf schließlich braucht die Verlorenheit einer Bühne, denn er ist beides, Realist und Romantiker, und kann sich nicht entscheiden. Als arroganter Didaktiker, der über die Hälfte eines Konzertes schlagfertig versucht, sein Publikum in ein Gespräch über „ein Thema“zu zwingen, will er ein romantisches Ideal von Ehrlichkeit generieren. In seinen Texten aber erzählt ein starkes Ich in Hackversen von der Wirklichkeit des „Schwächerwerdens“. Parolen-mosaike werden zur Rettungsmusik der Innerlichkeit.

Aber die Bühne, in diesem Fall die des Molotows am Donnerstagabend, erlaubt nur, souverän mit Ängsten umzugehen – wenn man es hinkriegt. Die Angst vor der Rockpose beispielsweise, vor einem peinlichen Satz, einem falschen Bekenntnis, einer Sentimentalität oder der kippenden Balance von Arroganz und Aussage. Die literarische Flucht nach vorne, die Kristof Schreuf nach der Kolossalen Jugend und einem jahrelangen Probenprozeß in diversen Besetzungen mit Brüllen jetzt mit großen Entertainerqualitäten beherrscht, ist da weit vorn. Der Romantiker Karl Kraus trifft hier den Realisten Hölderlin bei einem Rock'n'Roll-Unfall. Die Musik steht Text bei Fuß. Wenn die Worte enden, enden auch die Takte. Das gefällt dem Teil des Publikums nicht, der auch pöbelt, weil Schreuf zuviel redet und zu wenig spielt.

Wer allerdings nur die klirrende Rock-Literatur auf der Platte Schatzitude hört, der kennt nur den Realisten Schreuf. Die Macht des Mikrophons, die jüngst Christoph Schlingensief in seiner Bahnhofsmission vorexerziert hatte, wird auch bei Kristof Schreufs Bühnenarbeit zur zentralen Metapher für Herrschaft und vermeintliche Freiheitsangebote. Doch der Ausbruch der Dialogfertigkeit in der Kultur, wenn der Anführer die anderen zum Mitreden animiert, ist allerschönste politische Romantik von verinnerlichter Demokratie. Was immer für ein Publikum wo immer in der Welt wirklich zählt, ist die Qualität der Performance – und die ergibt sich aus Talent, Mut, schnellen Denkleitungen und einem Haufen Material und kluger Ideen. Das beherrscht Kristof Schreuf und deswegen ist Brüllen grandios.

Und wo kann sich der Widerspruch von Realismus und Romantik lösen? Im Schnittpunkt der Sehnsucht, wo es heißt: „Ich habe keinen Standpunkt, denn du veränderst gerade mein Leben.“Wie schön. Da wollen wir dabei sein.

Kees Wartburg