Doktor im Dauerstreß

Praller Donnerstag – ein Fernseharzt erzählt  ■ Von Heinz-Günter Hollein

Donnerstag ist mein Tag. Um punkt 9 Uhr 03 muß ich raus, mit den Fliegenden Ärzten im ZDF ins australische Outback, wieder mal irgendwelchen urwüchsigen Typen gegen ihren Willen die Segnungen der modernen Medizin aufzwingen. Kein leichtes Leben, und manchmal denke ich wehmütig an die idyllischen Tage, als ich noch Der Landarzt in Dekelsen war.

Aber die Wirklichkeit läßt mir keine Zeit für Erinnerungen. Um 9 Uhr 45 geht es bereits weiter mit der Videoaufzeichnung der letzten Wiederholung der Fliegenden Ärzte, die seit 8 Uhr 35 auf Kabel 1 läuft. 10 Uhr 25: Ich muß abbrechen, auf Pro 7 ruft der Emergency Room. Das Adrenalin steigt, aber wenigstens steht mir hier ein medizinischer High-Tech-Apparat zur Verfügung, mit dem das Operieren noch Spaß macht. Drei, vier Stromstöße durch die schlappe Pumpe gejagt, ein zufriedenes „er kommt wieder“und ein hastiger Schluck brauner Brühe aus dem Pappbecher – Arztalltag.

Ein paar Minuten trügerischer Ruhe und Zeit für ein paar Zeilen aus den Erinnerungen jenes Größten unter uns: Sauerbruch – Das war mein Leben. Ich kann dem Droemer Knaur Verlag gar nicht genug danken für seine Neuauflage dieser Quelle an Inspiration und Kraft. Denn ich weiß aus langer Erfahrung, daß mir die nächsten Stunden alles abverlangen werden.

Ein Blick auf mein Klemmbrett beendet abrupt das introspektive Mittagsidyll. 13 Uhr 10: neuer Einsatz für die Fliegenden Ärzte auf Kabel 1, 13 Uhr 25: General Hospital auf TM 3, 14 Uhr 00: Trapper John, MD auf Sat 1. In Bruchteilen von Sekunden muß ich Entscheidungen treffen, die Leben oder Tod bedeuten können. Hat der Patient auf Kabel 1 noch eine Chance oder zappe ich auf Sat 1, wo die koronare Insuffizienz auf mein erlösendes „Defilibrieren!“wartet? Und als ich endlich wieder auf TM 3 bin, erwartet mich die Grabesstimme des Anästhesisten: „Wir haben ihn verloren.“

Als ob das alles noch nicht genug sei, will dieser Clown von Verwaltungsdirektor auch noch Rechenschaft über meinen gestiegenen Amphetamin-Verbrauch! Was glaubt dieser Pfennigfuchser denn, wie unsereins das durchhält? Um 15 Uhr stehe ich am Waschbecken, die frisch geseiften Unterarme wie flehend erhoben, und erblicke im Spiegel ein paar hohle, erschöpfte Augen, die mich zu fragen scheinen: „Lohnt sich das alles überhaupt? Hast du richtig gehandelt oder mußte er deinetwegen sterben?“

In solchen Momenten erkenne ich erschüttert die Grenzen unserer Profession. Aber ich wische solche quälenden Selbstzweifel beiseite – ich muß. Denn der Tag ist noch lange nicht zu Ende. Um 19 Uhr warten bei Sat 1 Personalprobleme auf mich. Meine Geliebten Schwestern machen mir Kummer. Junge, hübsch anzusehende Dinger allemal, aber ich fürchte, sie haben noch nicht gelernt, daß es für uns kein Privatleben gibt und unter dem grünen Kittel nur das Arztherz pocht und sonst gar nichts. Einem anderen, ungleich heikleren Problem, muß ich mich um 20 Uhr 15 auf RTL stellen. Ich darf nicht länger schweigend zusehen, wie der Kollege Dr. Stefan Frank, dem die Frauen schließlich vertrauen, bei seinen Operationen regelmäßig auf den Mundschutz verzichtet. Eine gewisse Eitelkeit mag ich ja zugestehen, aber die Patienten sind schließlich betäubt, und sein Team weiß doch wohl, wie er aussieht. Ich fürchte, der junge Kollege wird Schwierigkeiten bekommen, wenn er so weiter macht.

Sorgen macht mir auch die gute Schwester Stefanie. Diese patente Person reibt sich einfach auf. Außerdem zeigt sie mir in letzter Zeit einfach zu viel Bein und BH. Aber ein klärendes Gespräch muß warten, denn um 22 Uhr 15 steigert sich der Tag noch einmal zu einem operativen Crescendo in der Hansa-Klinik: „Schnell, einen Arzt!“und „Bitte, helfen Sie uns!“Damit ist eigentlich alles gesagt.

Aber das Alphateam steht bereit: Ärzte, die auch Menschen sind, von der angepunkten Jungschwester bis zur herben, aber hochherzigen Klinikleiterin. Denn: „Was ist noch wichtig auf dieser Welt, wenn man ein Leben retten kann? Nichts, gar nichts...“