Fast wie im wirklichen Leben

■ Im "virtuellen Berlin" sieht die Stadt täuschend echt aus. Neben dem Spaß, durch Wände zu gehen, nützt das Computerprogramm, weil es die Internetsuche mit Raumempfinden verbindet

Die Friedrichstraße ist heute sehr sauber. Kein Papier liegt auf den Gehsteigen, keine Grafitti zieren die Wände. Geräuschlos fahren rote und grüne Autos vorbei, warten an der Ampel und biegen dann in die Französische Straße ein. Vom Erdboden verschluckt sind Betonmischer und Gerüste, auch Baulärm gibt es nicht. Nur ein Lüfter brummt ganz leise. Er kühlt den Prozessor, der die Straßenansicht gerade ausgerechnet hat.

Der „City-Navigator“, ein Computerprogramm der „Echtzeit Gesellschaft für mediales Gestalten“, beeindruckt. Auf dem Bildschirm geht man durch bekannte Straßenzüge, kann aber auch, wenn man Lust hat, auf der Stelle wie ein Flugzeug in die Luft starten. Wäre der Zauber real, ließe es sich dann in edle Dachgärten spucken. Vorsichtigere Gäste der Cyber-City klopfen lieber an einige Türen und schauen, ob sie offen sind.

Das virtuelle Berlin existiert derzeit erst als Demo-Version auf einem Echtzeit-Rechner. Noch sind nur einige der hauptstädtischen Innenstadtgebiete komplett erfaßt. In drei Monaten soll eine vollständigere, aber detailarme Programmversion auf den Markt kommen, die auf jedem PC läuft. Die meisten Daten liefert eine CD- ROM, während einige aktuelle Informationen aus dem Internet geladen werden.

Nach dem Willen von Echtzeit- Geschäftsführerin Claudia Alsdorf wird dann das Leben in die virtuelle Stadt einziehen. Dabei sieht sie ihr Projekt nicht als „3D-Computerspiel“, sondern als „Vermittler von Information und Kommunikation“. Zu diesem Zweck würden Verbindungen zu Internetseiten, Diskussionsforen und zur elektronischen Post eingerichtet.

Wer sich im virtuellen Berlin bewegt, kann nicht nur wie ein Spaziergänger durch den dreidimensionalen Raum laufen, sondern sich auch per Klick auf den Stadtplan schnell an einen anderen Ort beamen oder ganz konventionell thematisch suchen.

Weil Informationen zu einem großen Teil räumlich wahrgenommen würden, sagt Alsdorf, passe das Echtzeit-Projekt in das vom Senat ausgeschriebene Internet- Stadtinformationssystem. Ein Ende letzten Jahres vom Senat beauftragtes Betreiberkonsortium aus den Unternehmen debis, alcatel, der Volksbank und der Investitionsbank Berlin wird über die Aufnahme des Echtzeit-Projekts allerdings noch entscheiden. Mitbewerber gibt es auch: Die Firmen AT Media GmbH und Cybermind AG entwickelten ähnliche Berlin- Simulationen.

Über mögliche Preise für Anbieter und Nutzer schweigen sich Echtzeit, der Senat und die Betreibergesellschaft noch aus. Auch Entwicklungs- und Betriebskosten der Software geben sie vor dem Ende der Verhandlungen nicht bekannt.

Vor zehn Jahren begann sich Edouard Bannwart, Gründer und auch Geschäftsführer bei Echtzeit, für die Idee einer Computerstadt zu begeistern. Seitdem sitzen fünf Leute an der Entwicklung der Software, erklärt Alsdorf. Auf digitale Liegenschaftskarten der Stadt bauten sie Häuser, Straßen und Plätze dreidimensional auf. Fassadenfotos würden mit den programmierten Gebäuden verknüpft — und fertig sei das Cyber- Haus.

Hineingehen in das Cyber-Haus kann man auch, falls in dem täuschend echten Gebäude Innenräume programmiert sind. Besucher der bunten Computerstadt können beispielsweise im Großen Saal des Schauspielhauses vorbeischauen und unter dessen großer Freitreppe hindurchgehen, wo sich in Wirklichkeit ein eisernes Gitter befindet. Der Menüpunkt „Keine Kollision“ macht es sogar möglich, durch Wände zu laufen.

Trotzdem zielt das niedliche Programm nicht auf die Entdeckungswut detailversessener Computerliebhaber. Obwohl das Stadtinformationssystem des Senats prinzipiell allen offensteht, sollen zahlungskräftige Anbieter und Kunden die hohen Entwicklungskosten refinanzieren.

Auch der Berlin-Navigator, dessen Aufnahme in das System noch ungewiß ist, demonstriert mit zwei komplett visualisierten Hotels, einem Kaufhaus und einem Edelrestaurant kommerziellen Anbietern seine Leistungsfähigkeit.

Per Internet wird man in Kaufhäusern und Katalogen wühlen können, mit einer E-Mail- Verknüpfung gibt man die Bestellung auf, worauf dann Kaffeemaschine, Hi-Fi-Anlage oder Geschirrtücher per Post ins Haus kommen. Aus der Ferne können Berlin-Besucher ihr Hotel buchen, nachdem sie dort in ihr Zimmer und aus dem Fenster geschaut haben.

Jedoch soll das kommerziell getragene Stadtinformationssystem auch öffentliche Interessen bedienen. Horst Ulrich, zuständiger Referent der Senatskanzlei, betont die kostenlose „informationelle Grundversorgung“, die das System via Internet leiste. So könne ein Bürgerservice der Verwaltung eingerichtet werden, der vielen den Weg zum Bezirksamt spare. Auch seien vergünstigte Bedingungen für Non-Profit-Organisationen vorgesehen. Wie weit solche Dienste visualisiert werden sollen, sei allerdings noch nicht klar.

Alsdorf gibt zu bedenken, daß virtuelle Systeme oft Probleme widerspiegelten, die auch in der Realität auftauchten. Im virtuellen Berlin gebe es etwa auch den öffentlichen und privaten Raum. Bei der Programmierung würde das berücksichtigt.

Auch Sascha Korp, Marketingleiter der Betreibergesellschaft für das Stadtinformationssystem, betont die „Analogie zur realen Stadt“. Demnach müsse die Gesellschaft einerseits dafür sorgen, daß das System sich rechnet, will andererseits aber auch kleine Nutzer ansprechen und „Communities aufbauen“.

Mit dem City-Navigator könnten Berliner auf dem virtuellen Weg zum Bezirksamt zwischen Bäumen spazieren, schnell noch im Kaufhaus vorbeischauen, die Treppe zum Amt hinaufsteigen und die richtige Tür suchen. Auch wäre es möglich, unterwegs einem Bekannten die Hand zu schütteln oder einem Freund ein E-Mail durch die Tür zu stecken.

Sogar simulierte Demonstrationen seien möglich, erklärt Echtzeit-Geschäftsführerin Alsdorf. Doch dazu müssen die Initiatoren wohl das Echtzeit-Programm „Crowd“ mieten — es stellt „Menschenströme im virtuellen Raum“ dar. Christian Domnitz