Streit um die schwachen Leistungen deutscher Schüler

■ Die Lehrerverbände sträuben sich gegen die Erkenntnis, daß das deutsche Bildungssystem im internationalen Vergleich schlecht abschneidet. Auch regional sind die Unterschiede groß

Berlin (taz) – Die Kränkung saß tief bei Deutschlands Pädagogen. In 24 Ländern hatten amerikanische Wissenschaftler die Leistungen von Oberstufenschülern getestet und dabei die deutschen auf den 13. Platz verwiesen. In höherer Mathematik belegten sie nur den drittletzten Platz, allein in Physik konnten sie ins obere Mittelfeld vorstoßen.

Nachdem die Amerikaner diese Ergebnisse Ende Februar in Boston vorstellten, meldete sich der deutsche Projektleiter Wilfried Bos zu Wort. Der Experte des Berliner Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung schrieb vertraulich an die zuständigen Ministerien von Bund und Ländern, die vorgestellte Ranking-Liste vereinfache die Ergebnisse der „Dritten Internationalen Mathematik- und Naturwissenschafts-Studie“ (TIMSS) zu stark. Einer der drei durchgeführten Tests, der die „mathematisch-naturwissenschaftliche Grundbildung“ abfragte, lasse kaum Vergleiche zwischen den Ländern zu. Ihn hatten in Deutschland nur zu einem Viertel Gymnasiasten ausgefüllt. Die übrigen Probanden waren Berufsschüler, die in anderen Ländern nicht einbezogen wurden.

Die Interessenvertreter der Lehrer, die ihre Zunft durch TIMSS einmal mehr in Mißkredit gebracht sahen, jubilierten. Das GEW-Vorstandsmitglied Marianne Demmer sprach von „verzerrten Statistiken“, die allein dazu dienen sollten, die Belastung der ohnehin überarbeiteten Lehrer „noch weiter zu erhöhen“. Der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Josef Kraus, geißelte den „dilettantischen Leichtsinn, Schülerpopulationen und Leistungen miteinander zu vergleichen, die nicht vergleichbar sind“.

Doch die Pädagogen hatten sich zu früh gefreut. „Die Ergebnisse an sich sind schon in Ordnung“, sagt Bildungsforscher Bos auf Nachfrage. Er habe nur vor allzu großen Vereinfachungen warnen wollen. Daß Deutschland bei den schulischen Leistungen „nicht zur Spitzengruppe“ zählt, lasse sich nicht in Zweifel ziehen.

Gern argumentieren Bildungspolitiker verschiedener Couleur, um andere Fächer als Mathematik und Physik sei es besser bestellt. So behauptet Bayerns Kultusminister Hans Zehetmair, die Schüler im Freistaat verfügten über hervorragende Fremdsprachenkenntnisse, während ein Ministerialbeamter aus Nordrhein-Westfalen auf Stärken in der politischen Bildung verweist. Wilfried Bos hingegen hält „Spezialbegabungen“ für extrem unwahrscheinlich. Wer in Mathematik versage, sei in der Regel auch in Deutsch kein Genie. Kein seriöser Bildungsforscher bestreitet, daß in Deutschlands Schulsystem vieles im argen liegt. Für Bernd Wurl, Mathematik-Didaktiker an der Freien Universität Berlin, beginnen die Mißstände schon bei der Ausbildung der Lehrer. „Deutschland hat die ältesten Lehrer, die längsten Ausbildungszeiten, den höchsten Anteil an reinem Fachstudium, den geringsten Anteil an schulpraktischer Ausbildung“, umreißt Wurl das „Effizienzproblem“.

Zudem fehle eine „positive gesellschaftliche Grundhaltung gegenüber Leistung“. An manchen Schulen gelte es „als chic, Leistung zu verweigern“. Leistungsträger würden zu Außenseitern. Zwar seien die Testergebnisse asiatischer Länder, die sich an der jüngsten Studie gar nicht mehr beteiligten, „von einem anderen Stern“ und für den europäisch-amerikanischen Kulturkreis unerreichbar. Doch gebe es durchaus nachahmenswerte Elemente im japanischen Schulsystem.

Wenig stichhaltig ist nach Wurls Ansicht die Behauptung der GEW-Funktionärin Demmer, das deutsche Schulsystem habe „seine zentrale Schwachstelle“ in der gymnasialen Oberstufe, weshalb nach dem Vorbild der leistungsstarken skandinavischen Länder die Gesamtschule zu stärken sei. Die real existierenden deutschen Gesamtschulen jedenfalls habe der Test, so Wurl, „mit einem großen Fragezeichen versehen“. Sie schnitten bei der vorausgegangenen TIMSS-Studie zur Mittelstufe „nur unbedeutend besser ab als die Hauptschulen“.

Groß sind die Unterschiede

auch zwi-

schen den einzelnen Bundesländern. Bei den Siebt- und Achtkläßlern attestierten die TIMSS-Forscher den bayerischen Schülern einen Vorsprung von anderthalb Jahren gegenüber ihren nordrhein-westfälischen Altersgenossen. Doch könne man Gymnasien in Ballungsräumen, wo sie längst zur „Regelschule“ mutierten, schwer mit Gymnasien im ländlichen Bayern vergleichen, wo sie eine „Eliteschule“ blieben, meint Wurl. Aber auch die „gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse“ spielten eine Rolle. In Oberbayern gebe es eben noch eine realistische Aussicht auf einen Arbeitsplatz. Wenn Hauptschüler dagegen auch mit besten Noten keine Aussicht mehr auf einen Job hätten, seien sie auch nicht mehr motiviert. Bayerns Kultusminister Zehetmair führt das gute Abschneiden seines Landes auf die „klare Profilierung“ des Schulsystems zurück. Er will den Anteil der Gymnasiasten weiter gering halten.

Detlev Acker, im nordrhein- westfälischen Schulministerium zuständig für die Gymnasien, hält regelmäßige Effizienzkontrollen für nötig, doch auch „weiche“, also kulturelle Faktoren seien relevant. „Der Faktor Leistung war nach 1968 verpönt. Da werden sich Wandlungen vollziehen müssen.“ Ralph Bollmann