Im Schatten des Bürgerkriegs

Bill Clinton ist der zweite, dessen Präsidentschaft nicht durch Wahlen, sondern durch Amtsenthebung bedroht ist. Der erste war 1866 Andrew Johnson. Die bemerkenswerten Ähnlickeiten sind auf den Bürgerkrieg des 19. Jahrhunderts zurückzuführen. Ein analytischer Rückblick vor den Kongreßwahlen am 3. November  ■ von Peter Tautfest

Niemand kam aus bescheideneren Verhältnissen ins Weiße Haus. Er wurde in Armut geboren und verwaiste früh. Nach Washington kam er als Südstaatler, der den Norden nicht verstand und dem der Süden mißtraute. Er war ein Demokrat, den die Republikaner nicht akzeptierten, und er war nie recht zu Hause im Weißen Haus, das von Republikanern beherrscht wurde.

Nicht von Bill Clinton ist hier die Rede, sondern von Andrew Johnson, geboren 1808, gestorben 1875. Er war der 17. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika und 1868 der erste, der sich dem bislang einzigen Amtsenthebungsverfahren (“Impeachment“) gegen einen Präsidenten stellen mußte.

Auf der Suche nach historischen Vergleichen denkt man bei Amtsenthebungheute vor allem an den republikanischen Präsidenten Richard Nixon. Doch das Impeachmentbegehren gegen Clinton ähnelt mehr dem Verfahren gegen Andrew Johnson. Denn anders als bei Nixon, dem Amtsmißbrauch nachgewiesen wurde, sind die Fälle Johnsons und Clintons Ausfluß eines Machtkampfes zwischen Parlament und Exekutive sowie Ausdruck unversöhnlicher Differenzen zwischen den Parteien – in beiden Fällen bildet das juristische Verfahren nur einen Vorwand.

Richard Nixon benutzte den US-Sicherheitsapparat, um Spuren eines Einbruchs republikanischer Wahlkampfhelfer ins Hauptquartier der Demokratischen Partei zu vertuschen. Andrew Johnson hingegen geriet mit einem später für verfassungswidrig erklärten Gesetz in Konflikt, das der Kongreß eigens verabschiedet hatte, um ihn darüber stolpern zu lassen. Das Urteil darüber, wie schwer Clintons Falschaussagen wiegen, steht noch aus. Im Unterschied zum Fall Nixon sind die Pläne zu seiner Amtsenthebung viel älter als der Vorwand, den er dazu lieferte.

Die Fälle Johnson und Clinton werden in die Rechtsgeschichte als Beispiele für ein Verfahren eingehen, das die Verfassungsgründer eigentlich verhindern wollten: Anders als in Demokratien wie der Bundesrepublik sollte der US-Kongreß außer in genau umschriebenen Fällen von Amtsmißbrauch nicht die Möglichkeit haben, einen Präsidenten abzusetzen.

Andrew Johnson war Vizepräsident des Sklavenbefreiers Abraham Lincoln. Nach dessen Ermordung 1865 trat Johnson an dessen Stelle. Der Bürgerkrieg zwischen den Nord- und Südstaaten war gerade beendet. Schlimmer noch als die materiellen Verwüstungen wogen die Zerstörungen der Beziehungen zwischen den Menschen.

Nach dem Krieg kreisten die politischen Debatten um die Frage, wie sich das Land wieder zusammenfügen ließ. Trotzdem sollten die Ergebnisse des Krieges festgeschrieben werden: Unter welchen Bedingungen sollten die ehemaligen Sklavenhalterstaaten des Südens wieder in die Vereinigten Staaten integriert werden?

Damals waren Lincolns Republikaner die Partei des Nordens, die für Bürgerrechte eintrat, während die Demokraten, die Partei des Südens, sich der Sklavenbefreiung und der Rassengleichheit widersetzte. Gleichwohl trat Lincoln um der nationalen Einheit willen für einen konzilianten Umgang mit dem Süden ein. Dessen abtrünnige Staaten sollten Freiraum bei der Neugestaltung ihrer Rechtssysteme haben. Lincoln stand mit dieser Strategie fast allein in seiner Partei.

Mißtrauisch registrierte diese, daß alte Bürgerkriegsgeneräle und Sklavenhalter wieder in führende Positionen aufrückten und Sondergesetze gegen Schwarze erließen. Die sogenannten „Radikalen“ unter den Republikanern wollten die Sklavenbefreiung konsequent durchführen, die alten Eliten entmachten und den Einzelstaaten die Revision der Ergebnisse des Bürgerkrieges unmöglich machen.

Anders als Lincoln, der aus Illinois kam, war Andrew Johnson Demokrat und Südstaatler. Er wollte Lincolns Kurs fortsetzen. Schnell geriet er mit der republikanischen Kongreßmehrheit aneinander, die keinen Schmusekurs mit den alten Südstaateneliten dulden wollte. Zwei republikanische Projekte standen in der Kritik, die auch Johnson teilte: eine soziale Einrichtung sowie ein Verfassungszusatz.

Um den befreiten und damit arbeits- und mittellos gewordenen Sklaven die Eingliederung in die amerikanische Gesellschaft zu ermöglichen, richtete der Kongreß 1865 das sogenannte „Freedmen's Bureau“ ein, eine Mischung aus Wohlfahrts- und Gleichstellungsbehörde. Im Jahr darauf erließ der Kongreß ein Bürgerrechtsgesetz, das Schwarzen die gleichen Rechte wie allen US-Bürgern zuerkannte; später wurde die Bestimmung als 14. Verfassungszusatz kodifiziert.

Umstritten ist die tatsächliche Leistung des „Freedmen's Bureau“, doch half sie zweifellos vielen Ex-Sklaven bei der Ausbildungs- und Arbeitsbeschaffung. Die Idee einer schwarzen Emanzipation erlebte in den US-Südstaaten nach dem Bürgerkrieg eine kurze Blüte. Schwarze Landtagsabgeordnete verabschiedeten Gesetze; schwarze Richter sprachen Recht, das schwarze Sheriffs durchsetzten.

Bei der Wiedervereinigung des Landes glaubte Johnson auf die entmachteten weißen Eliten nicht verzichten zu können. So belegte er 1866 den Haushalt für das „Freedmen's Bureau“ mit einem Veto und verweigerte dem Bürgerrechtsgesetz seine Signatur. „Veto-Andy“ nannte man ihn daraufhin.

Der Kongreß aber überstimmte ihn immer wieder und hebelte damit buchstäblich den Präsidenten aus. De facto hatte der Kongreß die Regierungsgeschäfte übernommen, was auf eine Verfassungskrise hinauslief, die durch die Kongreßwahlen von 1866 noch verschärft wurde. Die Republikaner errangen in beiden Häusern des Kongresses eine Zweidrittelmehrheit und schickten sich an, den Präsidenten aus dem Amt zu drängen.

Als Vorwände wurden keine politischen Gründe vorgebracht. Dafür wurden Gerüchte über rauschende mitternächtliche Feste im Weißen Haus in Umlauf gebracht. Die Kongreßmehrheit verabschiedete darüber hinaus ein Gesetz, nach dem der Präsident keinen vom Senat bestätigten Minister entlassen durfte. Als Johnson trotzdem seinen Kriegsminister feuerte – den er verdächtigte, mit den radikalen Republikanern zusammenzuarbeiten – wurde gegen ihn ein Amtsentzugsverfahren eröffnet. Das Impeachment scheiterte schließlich nach dreiwöchiger Beratung im Senat am 28. Mai 1868 an einer Stimme.

Der Bürgerkrieg ist lange vorbei. Seither hat sich das politische Koordinatensystem geändert. Seit Präsident Roosevelts Zeiten sind es Demokraten, die sich für Sozialgesetze und eine aktive Gleichstellungspolitik einsetzen – und es dabei mit dem Widerstand des republikanisch gefärbten Südens zu tun haben. Nur eine starke demokratische Bundesregierung konnte 1965 das Bürgerrechtsgesetz auch im Süden des Landes durchsetzen.

Im Grunde hat sich Amerikas politische Agenda jedoch nicht gewandelt. 130 Jahre nach dem Bürgerkrieg lassen sich fast alle inneramerikanischen Konflikte auf zwei Grundfragen reduzieren, hinter denen letztlich sich die Rassenfrage und das Erbe des Bürgerkrieges verbergen: Ist es Aufgabe des Staates – vor allem der Bundesregierung –, die sozialen, ökonomischen und rassischen Ungerechtigkeiten auszugleichen? Muß nicht die Bundesregierung gegenüber den Bundesstaaten sowie deren Gebietskörperschaften die treibende Kraft sein?

Heute ist es Bill Clinton, der – wenn auch abgeschwächt – die Rolle des „Radikalen“ spielt, während die heutigen Republikaner im Kongreß eher Andrew Johnsons Haltung einnehmen. Geblieben ist die kompromißlose Feindschaft der Parteien sowie der Machtkampf zwischen Kongreß und Weißem Haus, zwischen Bundesregierung und Bundesstaaten.

Clinton, der wie Johnson aus dem Süden des Landes kommt, ist durch die Rassenfrage geprägt. Nach Washington kam er mit Plänen für eine Reform des schon stark demontierten Sozialstaates und als Erbe der Bürgerrechtsbewegung der sechziger Jahre. Clinton versprach das System der Sozialhilfe umzugestalten; zugleich wollte er ein Reformwerk anpacken, vor dem selbst Roosevelt zurückschreckte, nämlich die Etablierung einer nationalen Krankenversicherung.

Clinton brachte mehr Schwarze in hohe Ämter als alle Präsidenten vor ihm. Die Reform der Sozialhilfe aber geriet ihm fast zu deren Abschaffung, und seine Pläne für eine nationale Krankenversicherung scheiterten schon vor jeder Debatte im Kongreß an den Lobbyisten. Auch in der Anit-Diskriminierungsfrage erlitt Clinton heftige Niederlagen. Die Republikaner betrieben auf Bundes- und Landesebene die Abschaffung der „Affirmative Action“ genannten aktiven Gleichstellungspolitik, die Generationen von Schwarzen den Zugang zu den Universitäten und zum Mittelstand eröffnet hatte.

„Affirmative Action“ – das ist das „Freedmen's Bureau“ von heute. Mit dem Abbau des Sozialstaats und dem Rückbau der Gleichstellungspolitik betreibt die republikanische Kongreßmehrheit auch die Demontage der Bundesregierung und die Beschneidung ihrer Kompetenzen. Was für Andrew Johnson die Wahlen von 1866 waren, das waren für Clinton jene von 1994, die erstmals seit vier Jahrzehnten den Republikanern eine Mehrheit im Kongreß brachten.

Diese Majorität ist seit vier Jahren fest entschlossen, nicht nur gegen, sondern ohne Clinton zu regieren. Der Präsident hat zwar bislang durch wechselnde Koalitionen über die Parteigrenzen hinweg Kompromisse aushandeln können. Gleichwohl ist er in vielen Fragen durch den Kongreß gelähmt. Wichtige Initiativen – wie die zur Tabakgesetzgebung, die Geldmittel für Sozialprogramme bereitstellen sollte – wurden erstickt.

Auch andere Reformpläne – mehr Bundesmittel für Kindertagesstätten und dringend benötigte Reparaturen der öffentlichen Schulgebäude des Landes, die Stärkung der Rechte von Patienten gegenüber ihren Krankenkassen – waren chancenlos.

Die heutigen Radikalen im Kongreß wollen den von ihnen gehaßten Präsidenten Clinton am liebsten ganz los sein. Daß einem gefeuerten Clinton ein Demokrat wie Al Gore folgen würde, stört sie nicht. Denn der wäre vollends handlungsunfähig, weil er für jede Personalbesetzung die Zustimmung des Senats braucht – und in dem haben die Demokraten auch keine Mehrheit.

Regiert würde das Land vom Kongreß und damit letztlich nur noch von den einzelnen Bundesstaaten. Die heutige Krise ist ein fernes Echo der Debatten nach dem Bürgerkrieg. Momentan sieht es nicht so aus, als würden die Kongreßwahlen am 3. November das Blatt wenden.