Probleme? Deine Mafia hilft

Rußlands Mafia funktioniert besser als der postsozialistische Staat. Was sie den Geschäftsleuten abknöpft, empfinden manche sogar gerechtfertigter als die Besteuerung. Und die Behörden nehmen's hin. Mit dem Mafiagünstling Wolodya sprach  ■ Ernst von Waldenfels

Wolodya gehört zu denen, die immer auf die Füße fallen. In den achtziger Jahren bringen ihn Abenteuerlust und die Aussicht auf ein höheres Einkommen dazu, als ziviler Ausbilder nach Afghanistan zu gehen. Er lernt viel. Für seine Erfahrungen auf dem Kabuler Schwarzmarkt findet er später, nach der wirtschaftlichen Öffnung seines Heimatlandes, neue Verwendung.

Er startet mehrere kleine Handelsfirmen. Bald aber weiß er, daß es gefährlich wird, wenn seine Geschäfte eine gewisse Größe erreichen. Also backt er kleinere Brötchen. Heute besitzt er zwei Videoläden in St. Petersburg. Reich ist Wolodya nicht, doch es geht ihm gut genug, um an den Bau eines Hauses denken zu können.

Einer seiner Kumpel aus Afghanistan ging einen weniger bescheidenen Weg. Ihm gehört mittlerweile auch eine elegante Yacht. Vom Segeln versteht er aber nichts. Und so ist Wolodya damit beauftragt, das Luxusgefährt in Schuß zu halten und im Sommer immer ihm und seinen Freunden zur Verfügung zu stehen, falls sie plötzlich Lust auf einen kleinen Ausflug verspüren.

Wenn Wolodya über das Leben eines Geschäftsmannes in Rußland spricht, wendet sich die Unterhaltung unweigerlich dem Thema Krischa (“Dach“) zu. Das Wort steht für Schutzorganisation. In unseren Breitengraden würde man sagen: Mafia. Ohne deren Einwilligung kann man in Rußland nicht einmal Eis auf der Straße verkaufen. Wolodyas „Dach“ wird von dem Besitzer der Yacht geleitet, ein ehemaliger Boxer, der zu einem der Bosse der Petersburger Unterwelt aufgestiegen ist. Wolodya bekommt als alter Kumpel den Schutz umsonst. Das empfindet er als großzügig, denn normalerweise müßte der Kleinunternehmer fünf bis zehn Prozent seines Umsatzes abgeben.

Die Zeit des Reckets, des Schutzgeldeintreibens, ist eigentlich fast vorbei, sagt Wolodya. Heute brauche man den Schutz vor allem gegen Konkurrenten. An den Fingern zählt er ab, wie viele Organisationen es in St. Petersburg gibt. Es sind mehr als nur eine Handvoll.

Schutz, das kann auch Schutz vor den staatlichen Ordnungshütern bedeuten. Einmal, erzählt Wolodya, beschloß ein Oberst der Miliz, sich an den Einkünften des Videomarktes zu beteiligen. So begann er Videoläden zu durchsuchen, das Inventar zu beschlagnahmen und für deren Herausgabe Geld zu verlangen. Was soll in so einem Fall der Besitzer machen? Sich an die Justiz zu wenden hat wenig Sinn.

Also wird der Boß eines „Daches“ mit dem Problem bekannt gemacht. Der wiederum weiß, daß ein Oberst auch nur ein verhältnismäßig kleines Licht in der Polizeihierachie ist und seine Einnahmen mit denen, die weiter oben stehen, zu teilen hat. Der Boß wendet sich also an einen Vorgesetzten, droht, daß ihm oder seiner Familie etwas zustoßen könnte, falls der unliebsame Oberst nicht zur Raison gebracht wird. Und siehe da: Nach kurzer Zeit wird der Fall in den Zeitungen geschildert – natürlich ohne dessen Vorgesetzte zu erwähnen. Der Oberst verschwindet in einem Straflager.

Kämpfe oder sogar Schießereien zwischen den „Dächern“, sagt Wolodya, seien aber äußerst selten, da man immer versuche, sich gütlich zu einigen. Als Kriminelle, Verbrecher gar, sieht er die Drahtzieher dieser Organisationen nicht. In der Mehrheit seien es ehemalige Sportler, hauptsächlich Ringer und Boxer. Natürlich, mancher habe auch mal gesessen. Aber wer hat das nicht in Rußland? Ansonsten seien Probleme mit dem Gesetz leicht lösbar. Wolodya reibt vielsagend Daumen und Zeigefinger aneinander.

Auch der Immobilienmarkt in den Großstädten Moskau und St. Petersburg ist heute heiß umkämpft zwischen den „Dächern“. Einst, in der Zarenzeit, lebten in den Innenstädten Beamte, Offiziere, Geschäftsleute und Industrielle. Ihre Wohnungen hatten gigantische Zuschnitte mit separaten Dienstboteneingängen.

Nach der Revolution, besonders zur Zeit der Industrialisierung Anfang der dreißiger Jahre, explodierte die Zahl der Einwohner; die Villen und riesigen Wohnungen wurden unterteilt, so daß etwa aus einem hundert Quadratmeter großen Saal ein Flur und vier Zimmer wurden. Vier Familien, die sich Küche und Bad teilten, fanden dort Unterkunft – die berühmt-berüchtigten Kommunalkas.

Später, nach dem Zweiten Weltkrieg, entspannte sich die Wohnungssituation durch den Bau riesiger Satellitenstädte. Heute streben die Neureichen zurück in die Zentren. Ihnen gefallen die Altbauten, sofern sie saniert werden und die ursprünglichen Grundrisse wiederhergestellt sind. Nur die Mieter, die vergleichsweise wenig bezahlen, stören. Bei den Methoden, sie loszuwerden, geht man nicht zimperlich vor. Sie reichen von dem Angebot einer Neubauwohnung am Stadtrand nebst einer Geldsumme bis hin zum Mord.

Beispielsweise fährt eine Familie in einen längeren Urlaub, kommt zurück und findet ihre Wohnung besetzt vor. Während ihrer Abwesenheit, wurde die Wohnung mit gefälschten Papieren verkauft. Der neue Besitzer verkauft sie weiter, was dann solange geht, bis der Anfang der Kette nicht mehr zu ermitteln ist.

Was tun? Wolodya weiß Rat: Man wende sich an ein „Dach“. Natürlich nicht ohne das nötige Kleingeld. Falls man keines hat, verspricht man der Organisation einen Teil der Einnahmen aus dem Verkauf der wiedergewonnenen Wohnung.

Ein anderes Geschäftsfeld der Mafia ist das Eintreiben von Krediten. Nicht nur solcher, die sie selbst vergeben hat. Auch normale Banken bedienen sich ihrer Dienste. Auf die Behörden ist kein Verlaß, und die Geldhäuser wollen nicht jahrelang auf verliehenes Geld warten, das dann letztlich vielleicht gar nichts mehr wert ist.

In einen solchen Fall war Mitya verwickelt. Zwei seiner Freunde liehen sich zehntausend Dollar, um in den Gemüsehandel einzusteigen. Sie kauften für diese Summe Tomaten in Astrachan im Süden Rußlands und verluden sie in einen Kühlwaggon der russischen Staatsbahnen, um sie nach St. Petersburg zu transportieren. Als die Ware ankam, war sie verdorben: Die Kühlung war ausgefallen. Mitya glaubt, daß ein Konkurrent dahintersteckte. Hätten sich die beiden unter ein „Dach“ begeben, wäre die Ware womöglich heil angekommen. Die beiden hatten nichts, was sich hätte schnell zu Geld machen lassen. Sie konnten die Schulden nicht zurückzahlen.

Der eine kam dann offiziell durch Herzversagen ums Leben. Beim Fallen habe er sich eine starke Kopfverletzung zugezogen, und dann habe sein Herz ausgesetzt, hieß es im Obduktionsbericht. Der andere ist verschwunden. Die Affäre kostete Mitya, der eigentlich mit der Sache nichts zu tun hatte, zwei Zähne und eine Woche unbezahlte Arbeit (er ist Mechaniker), da sich die Schuldeneintreiber nun an ihn, den Freund, hielten.

Geschichten wie diese können Wolodya nicht beeindrucken. Man dürfe solche, wirklich schrecklichen Vorkommnisse nicht verallgemeinern. Schließlich hüteten sich die meisten, dummerweise ein Geschäft ohne Schutz, ohne „Dach“ anzufangen.

Doch manchmal kommt der wirtschaftliche Erfolg unerwartet. Zum Beispiel bei dem Autoren eines Lexikons amerikanischer Schimpfwörter samt Übersetzung ins Russische. Das Buch wurde ein Renner und weckte Begehrlichkeiten. Ihm wurde gedroht – Geld oder Leben. Der Autor hatte das Geld aber nicht mehr, weshalb er mit seinem Leben bezahlen mußte.

Das, so meint Wolodya, sei nun einmal ganz gewöhnliche Kriminalität und habe nichts mit den Geschäften der Schutzorganisationen zu tun. Denn: Ein „Dach“ hätte den Autor maßvoll besteuert, ihm zur Not auch ein paar Knochen, aber natürlich nicht die Finger, gebrochen. Aber ansonsten doch nicht das Huhn geschlachtet, das noch ein paar Eier legen soll. Ist das nicht wie bei den westlichen Finanzämtern? Wolodya gefällt dieser Vergleich außerordentlich gut.

Diese, sagen wir, privat organisierten Finanzämter haben die staatlichen Strukturen in den letzten Jahren derart korrumpiert, daß Moskau etwas tun mußte. Spezialeinheiten der Kriminalpolizei, RUOP genannt, wurden gegründet und direkt dem Innenministerium unterstellt. Ein RUOP-Mitglied aus St. Petersburg räumt ein, daß die „Dächer“ inzwischen Buchhalter und Finanzspezialisten haben, die den Gewinn der Betriebe, die unter ihrem Schutz stehen, schätzen und „gerecht“ besteuern. Ein neues Wirtschaftsrecht, so der Polizist, sei in Rußland erst im Entstehen, und es gebe von staatlicher Seite keine Juristen, die mit diesem Komplex vertraut sind.

Organisierte Kriminalität in Rußland ist ein Phänomen, daß mit herkömmlichen westlichen Vorstellungen schwer nachvollziehbar ist. Die Mafia hat den Staat nicht übernommen, sondern in wesentlichen Punkten einfach ersetzt. Behörden, die das reibungslose Funktionieren des Kapitalismus garantieren, waren in Rußland nicht vorhanden, als plötzlich die Privatwirtschaft da war. Gerichtsvollzieher zum Beispiel waren in einer Planwirtschaft, in der zumindest theoretisch alle ökonomischen Aktivitäten in staatlicher Hand sind, kaum vonnöten.

Daß die Mafia besser funktioniert als die staatliche Verwaltung, führt zu verblüffenden Konstellationen. Derselbe Mitya, dem die Geldeintreiber die Zähne ausschlugen, spricht mit einer gewissen Wehmut von einem tschetschenischen „Dach“, das ihm vor Jahren den nötigen Schutz für ein kleines Holzgeschäft gab.