Geiseln ihrer Vergangenheit

Rechtsstaatlichkeit und demokratische Regeln stehen in der russischen Bevölkerung unter dem Verdacht, sie dienen nur den Funktionären, nicht den Menschen. Warum das so ist, hat historisch Gründe, die nicht allein mit den sieben Jahrzehnten Sowjetherrschaft zu tun haben. Ein Essay  ■ Von Barbara
Oertel (Text) und Anthony Suau (Fotos)

Für die meisten Russen stehen westliche Werte, gerade in Mitteleuropa vielbeschworene Begriffe wie Freiheit, Demokratie und Rechtsstaat synonym für ihren täglichen Überlebenskampf: für Willkür, Postenschacher und schamlose Bereicherung weniger. Immerhin hat sich die Erkenntnis im Westen durchgesetzt, daß mit Boris Jelzin ein funktionierender Rechtsstaat nicht zu haben ist – obwohl der sieche Präsident, verglichen mit anderen Landespolitikern, als der demokratische Reformer galt.

Anfangs hatten Jelzins Freunde damit im Westen auch recht. Noch bei seiner Vereidigung zum ersten frei gewählten Präsidenten Rußlands am 19. Juli 1991 erklärte Jelzin, die Bürger hätten sich „für den Weg zur Demokratie und die Wiedergeburt der Würde der Menschen“ entschieden. Er trete dafür ein, Rußland zu einem „demokratischen, friedliebenden, souveränen Rechtsstaat zu entwickeln“.

Jelzin hatte einen Kern der Aufgabe zwar richtig benannt, deren Umsetzung aber unterschätzt – eine siebzigjährige kommunistische Herrschaft läßt sich nicht mit Absichtserklärungen tilgen.

Und so kam der neue russische Staat, der neben den anderen einstigen Republiken der Sowjetunion das Erbe des „sozialistischen Vaterlands“ antrat, bereits mit einem Geburtsfehler auf die Welt. Denn die Entscheidung der Staatschefs der Ukraine, Rußlands und Weißrußlands vom 8. Dezember 1991, die Sowjetunion aufzulösen, verstieß eindeutig gegen die Verfassung. Da fiel es auch gar nicht mehr ins Gewicht, daß noch im März des gleichen Jahres bei einem sowjetunionsweiten Referendum 76,4 Prozent der Abstimmenden für den Erhalt der Sowjetunion, wenn auch unter anderen Vorzeichen, votiert hatten.

Zwei Jahre darauf, im September 1993, machte Jelzin klar, daß die geltende Verfassung nichts, die Durchsetzung machtpolitischer Interessen hingegen alles ist. Als Antwort auf einen monatelangen Machtkampf mit dem widerspenstigen, noch unter der Sowjetunion gewählten Parlament, der Duma, verfügte er per Ukas und gegen geltendes Verfassungsrecht die Auflösung des Gremiums. Als sich die Abgeordneten widersetzten, ließ Jelzin das Militär gegen das Parlament aufmarschieren. An Befürwortern dieses zwar rechtswidrigen, jedoch als unvermeidbar erachteten Schrittes mangelte es nicht. Ein Indikator für das demokratische Bewußtsein des Landes ist der Kommentar der bereits zitierten Valerija Novodvorskaja: „Liberale Reformen in Rußland und der Angriff auf das Weiße Haus waren untrennbar miteinander verbunden. Der Beschuß des Obersten Sowjets war kein Unfall, sondern eine Notwendigkeit. Das mußte getan werden, und wir müssen damit leben.“

Eine Notwendigkeit, zumindest für Boris Jelzin, war auch der Einmarsch russischer Truppen in die auf Unabhängigkeit pochende Kaukasusrepublik Tschetschenien im Dezember 1994. Gemäß Verfassung, die ein Jahr zuvor in einem Volksentscheid angenommen worden war, hätte es dazu der vorherigen Ausrufung des Notstandes und der Bestätigung durch das Parlament bedurft. Das unterblieb. Der Krieg, der Tausende Menschen das Leben kostete, wurde bis 1996 fortgesetzt, ohne legalisiert oder unter parlamentarische Kontrolle gebracht worden zu sein.

Auch die jüngste politische Krise, die mit der Wahl des früheren Außenministers Jewgenij Primakow zum neuen Regierungschef ihr vorläufiges Ende fand, erteilte den Russen erneut eine anschauliche Lektion in Sachen Demokratie- und Rechtsstaatsverständnis ihrer politischen Repräsentanten. Als deutlich wurde, daß die Duma, sogar um den Preis ihrer Auflösung, den Wunschkandidaten von Boris Jelzin, Viktor Tschernomyrdin, auch im dritten Anlauf nicht als Premierminister bestätigen würde, kam plötzlich ein Verzicht des Präsidenten auf verfassungsrechtliche Kompetenzen zugunsten von Regierung und Parlament aufs Tapet. Das unter dem Label „Stabilitätspakt“ präsentierte Abkommen blieb zwar Makulatur, ließ aber keinen Zweifel an der vorhandenen Bereitschaft, Bestimmungen des Grundgesetzes tagespolitischen Erfordernissen zu opfern.

Und so ist denn der russische Staat selbst, der sich zwar Rechtsstaatlichkeit auf die Trikolore geschrieben hat, aber auch im Jahre sieben nach seiner Gründung meilenweit von einem System entfernt ist, in dem der Staat die Vorherrschaft des Gesetzes, den Respekt von Grund- und Menschenrechten garantiert, und wo das Bewußtsein Platz gegriffen hätte, daß die Sphäre des Rechts unabhängig und der Politik übergeordnet sein muß.

Die Menschen Rußlands erfahren ständig: Die Politik macht sich das Recht untertan. Und diese Erfahrung ist alles andere als neu. Die Bolschewiki hatten nach ihrer Machtübernahme 1917 keine Schwierigkeiten, die unzureichenden Ansätze von Rechtsstaatlichkeit zu beseitigen und durch eine Ideologie vom Recht als Instrument im Klassenkampf zu ersetzen. In der Stalinzeit konnte sich niemand auf Gesetz und Recht berufen – weil es sie nicht gab.

Fast scheint es, als sei Rußland zumindest im Moment nicht fähig, die Fesseln seiner Vergangenheit abzuschütteln. Und so nimmt es kaum wunder, daß sich Rechtsbewußtsein und Akzeptanz für ein rechtsstaatliches Prozedere bislang kaum haben entwickeln können.

Was im großen Stil vorgemacht wird – Ämterpatronage, Günstlingswirtschaft, Intransparenz –, reproduziert sich im Alltag. Bereits im 19. Jahrhundert stellte der russische Satiriker Nikolaj Saltykow- Schtschedrin fest: „Die außerordentliche Strenge der russischen Gesetze wird dadurch stark gemildert, daß ihre Durchführung nicht obligatorisch ist.“ Und der Schriftsteller Alexander Herzen schrieb vor rund 155 Jahren: „Das Volk fügt sich dem Gesetz als Zwang. Die völlige Ungleichheit vor Gericht hat in ihm jeden Respekt vor dem Gesetz abgetötet. Der Russe, gleich welcher sozialen Stellung, umgeht oder verletzt das Gesetz, wo immer er das tun kann. Und die Regierung macht es nicht anders. Was heute bedrückend und traurig ist, wird in der Zukunft ein Vorzug sein. Denn es zeigt sich, daß in Rußland hinter dem sichtbaren Staat keine Idee des Staates, kein unsichtbarer Staat, keine Apotheose der bestehenden Ordnung der Dinge steht.“

Diese Diagnose gilt noch immer. Nicht zufällig lobte Präsident Boris Jelzin dieses Jahr – der Unsicherheit und Orientierungslosigkeit seiner Landsleute im jungen, wiedergeborenen Rußland gewahr – über die Medien einen Wettbewerb aus. Die Menschen sollten Ideen für eine neue nationale Idee Rußlands machen. Resultate sind bislang nicht überliefert.

So nebulös die Staatsidee, so konkret sind die alltäglichen Erfahrungen der Menschen im heutigen Rußland. Entschieden wird immer noch oft genug nach dem Recht des Stärkeren. Wer Gesetze, die sich häufig – wie etwa beim Steuerwesen – widersprechen, einzuhalten versucht, ist verloren. Dadurch werden auch positive Neuerungen konterkariert – beispielsweise auf dem Gebiet der Neuordnung des Gerichtwesens und dem Austausch der alten Kader durch neue Juristen.

Nur wenige Russen wenden sich bislang an Gerichte, um ihre Rechte durchzusetzen. Zu tief sitzt ihr Mißtrauen, zu nachhaltig ihre Erfahrung von Rechtsmißachtung und –mißbrauch. Und wenn der frühere Gouverneur von Nischnij Nowgorod, Boris Nemzow, eine Anordnung des Präsidenten über Maßnahmen zur verschärften Bekämpfung des organisierten Verbrechens mit den Worten kommentiert: „Der Ukas des Präsidenten ist meiner Ansicht nach gesetzwidrig, aber richtig“, ernten allenfalls die Kritiker der Vorschrift Kopfschütteln bei der Bevölkerung.

Ist Rußland nun noch auf lange Sicht dazu verdammt, Geisel seiner eigenen Vergangenheit zu bleiben? Anfang dieses Jahrhunderts schrieb der russische Staatsrechtler Bogdan Kistjakowski: „Man kann uns entgegenhalten, es sei für uns sinnlos, selbständige Theorien von der Freiheit und den Rechten des einzelnen, von der Rechtsordnung und vom Verfassungsstaat auszuarbeiten, all das sei längst gesagt. Und uns bliebe nur übrig, es uns anzueignen. Selbst wenn dies so wäre, müßten wir diese Ideen selbst erfahren; es reicht nicht, sie nur zu übernehmen, man muß in einem bestimmten Augenblick des Lebens vollständig von ihnen erfaßt sein. Indes ist das Rechtsbewußtsein der russischen Intelligenzija niemals gänzlich vom Ideengut der Persönlichkeitsrechte und des Rechtsstaates erfaßt worden.“

Dieses Bewußtsein von Bürgerschaftlichkeit scheint schwer zu vermitteln zu sein – in allen Teilen der Bevölkerung. Doch Chancen sind trotzdem vorhanden. Das beweist nicht zuletzt der Fall eines Mannes, der sich vor drei Jahren gegen die Verletzung seiner Grundrechte vor dem russischen Verfassungsgericht wehrte. Er bekam recht. Doch bis ein derartiges Beispiel Schule macht, braucht Rußland Zeit, die ihm der Westen nicht einräumt, ökonomisch nicht, moralisch nicht. Die Folgen dieser Ungeduld könnten fatal sein.

Barbara Oertel, 34 Jahre, ist seit 1995 Osteuroparedakteurin der taz. Anthony Suau von der Agentur Visum, 42 Jahre, gewann für seine Fotoarbeiten etliche Preise.