Rußland, wohin?

Rußland macht Schlagzeilen, meistens sind es keine guten. Fast jedes Krisensignal aus dem einstigen Riesenreich läßt aufhorchen. So, als Anfang der Woche ein schwankender und arbeitsunfähiger Präsident Boris Jelzin Gerüchten über sein baldiges Ableben erneut Nahrung gab. Oder vor knapp zwei Monaten, als wütende Proteste hungriger und unbezahlter Bergarbeiter und Lehrer sowie der Absturz des Rubels und der Börse im Rauswurf des jungen Premierministers Sergej Kirijenko gipfelte. Das Land geriet abermals an den Rand einer Staatskrise. Sofort hatten – vornehmlich westliche – Untergangsszenarien und Angstphantasien vor einem außer Kontrolle geratenen und führungslosen Rußland wieder Konjunktur.

Die Rede war vom Moloch, der im Chaos versinkt, von der Gefahr eines Bürgerkrieges und von mangelnder Demokratiefähigkeit der Russen. Auch in Rußland selbst, das sich erst seit 1991 an der Demokratie versucht, wurde die Apokalypse an die Wand gemalt. Viktor Tschernomyrdin, dessen neuerliche Inthronisierung als Premierminister am Widerstand des Parlaments, der Duma, gescheitert war, sprach von einem „schleichenden Staatsstreich“ der Opposition. Und die russische Menschenrechtlerin Valerija Novodvorskaja attestierte ihrem Land Unregierbarkeit und der Bevölkerung politische Beschränktheit. Die russischen Reformen seien ein Schlachtfeld, auf dem ein Konsens unmöglich sei.

Doch nicht nur die Herstellung eines wie auch immer gearteten Konsenses, sondern die Verankerung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Rußland insgesamt, scheinen einer Quadratur des Kreises gleichzukommen. Sieben Jahre nach seiner ersten Wahl zum russischen Staatspräsidenten regiert der einstige Hoffnungsträger Boris Jelzin, der sein jetziges Mandat vielleicht im eigentlichen Sinne des Wortes nicht überleben wird, autokratisch wie ein Zar.

Und der zeigt sich nackt. Die Aufbruchstimmung der Russen nach dem Ende der Sowjetherrschaft ist mittlerweile einer Desillusionierung und Enttäuschung gewichen. Niemand weiß, wie dieser Misere abzuhelfen ist, ungeklärt die Frage: Rußland, wohin? taz.mag Seiten II + III