Bergsteigen in Bremen
: Die Gefahren des Bergsteigens

■ Folge 4: Warum neigen Fußballspieler in Extremsituationen zu Kannibalismus?

Sie erinnern sich: Ich halte es für meine humanitäre und politische Pflicht, den Müllberg an der A 27 zu besteigen. Meine Euphorie ließ mich zunächst die Gefahren des Bergsteigens verdrängen, denn Bergsteigen ist in der Tat gefährlich. Ein altes hanseatisches Sprichwort beschreibt den Berg als ein Grab für den Unwissenden, aber eine Festung für den, der ihn kennt. Um Ihnen einmal einen Eindruck von den Gefahren des Bergsteigens zu vermitteln, stellen Sie sich folgende Situation vor: Sie klettern die Zugspitze hinauf, es ist anstrengend, puh, Sie kriechen durch den Schnee, trotzdem schwitzen Sie in ihrem North Face Cloud Peak All Weather JacketTM, Sie können kaum noch etwas sehen, weil Ihre Cébé Supermark GlassesTM beschlagen sind, schließlich kommen Sie hyperventilierend und naßgeschwitzt auf dem Gipel an, reißen die beschlagene Brille vom Antlitz – und werden von Dagmar Berghoff begrüßt, die dort das Festival der Volksmusik moderiert.

Etwa in dieser Preisklasse befindet sich auch die Tragödie, die damals der Donner-Gruppe widerfuhr. Im April 1846 brachen 89 Siedler in 20 Ochsenwagen, geführt von George Donner, nach Kalifornien auf. Bei dem Versuch, die Sierra Nevada im Oktober zu überqueren, wurden sie von einem frühen Winter überrascht. Als man das Camp im Frühjahr 1847 auffand, waren nur noch 47 Siedler übrig. Das hatte nichts mit der Jahreszahl zu tun, sondern mit der Tatsache, daß die restlichen 42 ... äh ... nun ja, hm, sie waren von den anderen aufgegessen worden. Ich habe mal eine Verfilmung dieser Tragödie gesehen, die sich aber nicht sonderlich streng an den tatsächlichen historischen Ereignissen orientierte. Die Siedler waren keine Siedler, sondern eine südamerikanische Fußballmannschaft. Sie befanden sich auch nicht in der Sierra Nevada, sondern in den Anden. Und sie waren auch nicht mit Ochsenwagen gekommen, sondern mit dem Flugzeug abgestürzt. Außerdem ist der Film fürchterlich religiös. Sechzig Prozent der Zeit wird gebetet, zwanzig Prozent entfallen auf apathisches Herumsitzen, fünfzehn Prozent auf ethische Diskussionen und lediglich fünf Prozent auf den Leichenschmaus (ich habe das mit einer Stoppuhr kontrolliert). Und wenn man die ganzen gestandenen Männer wimmern und beten sieht, fragt man sich zwangsläufig, ob es sich nicht statt einer Fußballmannschaft um die Häkelgruppe eines Nonnenklosters handelt.

Aber mal im Ernst: Der Berg ist wahrlich kein Ort für Warm-duscher. Es drohen Steinschlag, Lawinen, Schneebretter, schlechtes Wetter, Cinderella, Rockefella, Nebel, Schneetreiben und und und. Und Schründe. Erst beim Recherchieren dieses Artikels fiel mir auf, welch ein grandioses Wort „Schründe“ ist. Selbst im Singular haut es einen noch vom Hocker, falls man zuvor auf einem solchen saß. „Schründe“ oder „Schrund“ ist so fürchterlich lautmalerisch, daß man gegenseitig sich zermahlende, karstig-schroffe Gesteinsbrocken im Rachen zu spüren vermeint, so rauh wie die Stimmen von Joe Cocker und Hans Hartz zusammen. Wenn ich es mir recht überlege – und ich überlege es mir recht – dann sollte man die Beck's-Werbung von einem Schrund singen lassen. Bestimmt würde der Schrund so berühmt wie Joe Cocker und Hans Hartz zusammen. And now, Ladies and Gentlemen, after that disgustingly boring foregroup, weighing in at four-hundred-and-fifty-five-thousand pounds, the biggest geographical irregularity in rock business, the man himself, Misteeeeeeer SCHRUUUUUUUUND!!!

Zuletzt möchte ich noch die in der Unterzeile aufgeworfene Frage beantworten: weil sie Hunger haben. Das Thema bei Arabella heute morgen war: „Hilfe, meine Freundin hat Cellulite!“

Tim Ingold