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Existenz auf bodenlosem Grund

„Ist die Erinnerung wasserlöslich?“: Ein französischer Dokumentarfilm zeigt, wie ein Leben nach dem Überleben möglich ist. Zwischen Intimität und Distanz bleibt der Film souverän, zärtlich und selbstversunken  ■ Von Elisabeth Wagner

Solange Najman, eine alte Dame, sitzt vor der Kamera ihres Sohnes, des Filmemachers Charles Najman, und spricht über die Deportation nach Auschwitz. Im roten Kostüm sitzt sie da, nachts in der Parkanlage eines Kurhauses, und berichtet über den Transport und das Sterben im Viehwagen. Ihre Stimme klingt zittrig, wenn sie in Andeutungen über das unvorstellbare Grauen hinwegeilt und sich auf das Erzählbare stützt.

Wie auf die Geschichte ihres kleinen Diamanten. Die Mutter hatte das Schmuckstück der Tochter an sich genommen. Als ein verzweifeltes Pfand fürs Wiedersehen und Überleben. Sie verdanken es dem Zufall, sagt die Dame im Park. Nichts anderem als einer Kette der absurdesten Zufälle, daß sie sich nach der Befreiung wiedersehen. Noch über 50 Jahre nach diesem Augenblick kommt die Mutter für die Tochter aus dem Nichts. Solange beschreibt eine bis zur Unsichtbarkeit klein gewordene Gestalt, die sich ihr damals näherte und ihr ein fast unglaubliches Geschenk macht. Sie gibt der Tochter den Diamanten zurück.

Vor jeder Tortur, erklärt Solange, hatte die Mutter den Stein geschluckt. Sie hat ihn ausgeschieden, ihn wieder an sich genommen und wieder geschluckt. Die ganzen Jahre im Lager wiederholte sie diese Prozedur. Bis das Kleinod eine winzige, scharfe und einsam leuchtende Klinge in ihrem Körper gewesen sein muß. „Sehen Sie“, sagt sie und hebt ihr Halskettchen in die Kamera, „dieser Diamant kommt aus Auschwitz.“ Dabei lächelt die Überlebende, wissend, daß alle, die von der anderen Seite zur Wirklichkeit hineinschauen und keine Opfer des Naziterrors waren, es nicht begreifen können.

Der Film beschönigt das nicht, diesen Riß im Verstehen. „Ist die Erinnerung wasserlöslich?“ Da ist nicht von der Widerständigkeit des Diamanten die Rede, sondern ironisch vom Vergessen. Oder vom Weiterleben über bodenlosem Grund. Ohnehin mußte das Weiterleben sich nicht nur mit der eigenen Erfahrung, es mußte sich auch mit den Zumutungen einer sogenannten Normalität zurechtfinden.

Jedes zweite Jahr gestattet die deutsche Regierung Solange und ihren Freundinnen eine Wasserkur in Evian. Seit Adenauer spricht man von „Wiedergutmachung“ – ein Wort, das wie ein falsches Etikett auf diesem schmalen Urlaub klebt. Doch Charles Najman verschwendet keine Zeit, sich an den Lügen der Verdrängung abzuarbeiten. Er bleibt statt dessen bei den alten Männern und Frauen, hört ihnen zu und begleitet den Alltag ihrer Kur.

Langsam schlurft ein Mann mit seinem Korbstuhl über den Rasen, eine Gruppe spielt Karten, oder jemand erzählt traurige Witze. Namen von Medikamenten, die zumindest manchmal beim Einschlafen helfen, machen die Runde. Daneben wecken Kohlensäurebäder, die aus Schläuchen und Gasflaschen kommen, unweigerlich schreckliche Assoziationen. Ein Orchester spielt wie in Auschwitz.

Die Vergangenheit ist allgegenwärtig, entzieht sich aber jedem Zugriff. Aus vorsichtiger Nähe kommen die Bilder dieses Films. Sie dokumentieren die Gegenwart, die Stärke der Mutter und achten den Raum der Erinnerung. Wenn er solcherart selbstversunken an den Erwartungen der Zuschauer vorbeiläuft, ist der Film am beeindruckendsten. Solange flirtet, sie tröstet einen jungen Mann, der unter Depressionen leidet, und behält ihre Tränen für sich. Sie besteht auf dem Leben im Überleben, ohne zu verschweigen, daß das eigentlich unmöglich ist. Das ist das Paradox: daß das Leben und das Überleben ohne Berührung nebeneinander herlaufen – hoffnungslos und mutig.

Kino Hackesche Höfe, Rosenthaler Str. 40/41, bis zum 4.11.

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