Konzepte für Arbeit – hart am Rande der Realität

■ Nach dem Ende der Arbeitslosenproteste entwickelt die „AG Existenzsicherung“ Ideen für ein „goldenes Zeitalter“: 1.500 Mark für alle, Verdiener sollen die Hälfte ihres Einkommens abgeben

War es nur ein kurzer Sommer der Bewegung? Ein bißchen Schwarzfahren, ein kurzer Kampf um ein Transparent am Brandenburger Tor, ein paar Arbeitslose bei Karstadt? Vorerst, so scheint es, ist die Zeit der ohnehin etwas schleppenden Erwerbslosenproteste beendet. „Da im Augenblick bei den meisten von uns die Luft raus ist“, so beginnt das jüngste Flugblatt des „Aktionsbündnisses Erwerbslosenproteste“. Und: „Es ist uns nicht gelungen, den Erwerbslosenprotest auf eine breite Basis zu stellen.“

Statt der umständlichen Mobilisierung von Arbeitslosen widmet sich die „AG Existenzsicherung“ jetzt solidarischeren Zielgruppen. Unter dem Motto „Das goldene Zeitalter der Existenzgeld-Gesellschaft“ stellte die AG ihr Konzept, das sie unter dem Slogan „Wir arbeiten. Kohle her. Basta“ anpreist, am Donnerstag abend einem Autonomen Seminar an der Humboldt-Universität vor. Der wissenschaftlichen Methode wolle man sich nur bedienen, so Seminarleiter Wolfgang Ratzel, „um praktisch- politisch die Verhältnisse zu ändern, in denen wir leben“.

Nachdem sich die überwiegend studentische Gruppe über die Modalitäten geeinigt hatte, stellte Ratzel das Konzept anhand umfangreicher Rechnungen und Schaubilder vor: Danach soll künftig jeder, egal ob Erwachsener oder Kind, ein Existenzgeld in Höhe von 1.500 Mark plus Warmmiete erhalten. Finanziert wird das Ganze dadaurch, daß jeder verdienende Bürger zusätzlich zu den Steuern und Abgaben, die in dem Modell nicht angetastet werden, 50 Prozent seines Nettoeinkommens abgibt – im Gegenzug aber eben auch 1.500 Mark zurückbekommt.

Nach der Rechnung der AG würde sich das Bruttosozialprodukt dadurch nicht verändern. Unter dem Strich bleiben nach Ratzels Rechnung sogar noch 500 Milliarden jährlich übrig, die zur Senkung der Arbeitgeberbeiträge verwendet werden könnten.

So richtig glauben wollten das aber nicht einmal die überwiegend geisteswissenschaftlich orientierten Studenten. Ob denn darüber nachgedacht worden sei, wer dann noch arbeiten ginge und wie viele Großverdiener ins Ausland abwanderten? Ratzel, nun nicht mehr ganz hart an der Realität: „Das zu diskutieren, müssen wir jetzt leider einmal auslassen.“ Ein anderes Mitglied der „AG Existenzsicherung“ fand, es gehe ohnehin darum, klarzumachen, daß „die Vermehrung von Arbeit eine ziemliche Idiotie ist und es eher darum gehen sollte, uns von der Arbeit zu befreien“.

Schwierig wurde es nach Meinung der Seminarteilnehmer auch bei der Bezugsberechtigung, soll doch „jeder Bürger, unabhängig von Nationalität und Geburtsort“ Anspruch auf das Existenzgeld haben. „Dann werden wir ja überschwemmt“, erwiderte eine Teilnehmerin politisch nicht ganz korrekt. Deswegen sei es „auch ganz wichtig, daß es weltweit etwa gleichzeitig eingeführt wird“, konterte ein anderer prompt. Eine Antwort hatte er auch auf auf den Einwand parat, wenn man das Modell weltwirtschaftlich umrechne, bekomme jeder Bürger statt 1.500 Mark nur 1,50 Mark: „Aber fordern kann man es doch erst mal!“

Auf Stirnrunzeln im Publikum, vor allem bei dem einzigen Juristen im Raum, stießen allerdings auch einige grundlegende Voraussetzungen des Modells, vor allem die Definition von Arbeit als Mischung aus „Erwerbsarbeit“ und „zweckfreier Eigenarbeit“. Es sei „überhaupt nicht einzusehen, daß Erwerbsarbeit bezahlt wird, Marathonlaufen und Schachspielen aber nicht“, so Ratzel. Spätestens hier stelle sich dann auch die Frage, „ob das Konzept nicht nur sehr bedingt unter kapitalistischen Vorzeichen diskutiert werden kann“. Jeannette Goddar

„Das goldene Zeitalter der Existenzgeld-Gesellschaft“, donnerstags 18 bis 20 Uhr, Dorotheenstr. 18–20, Raum 504.