Berliner wollen Deutsche werden

Die Türkische Gemeinde in Berlin-Brandenburg verspricht nach der angekündigten Einbürgerungserleichterung einen Sturm auf die Behörden  ■ Aus Berlin Julia Naumann

„Es wird einen großen Ansturm auf die Einbürgerungsbehörden geben, und wir werden dafür sorgen, daß der Sturm noch größer wird.“ Kenan Kolat ist in diesen Tagen besonders energiegeladen. Der Sprecher der Türkischen Gemeinde Berlin-Brandenburg will schon in den kommenden Tagen und Wochen Informationsbroschüren neu auflegen lassen, Flugblätter verteilen, an den Schulen unter den Jugendlichen werben – auch wenn es mindestens noch ein Jahr dauern wird, bis das neue Gesetz zur Einbürgerung von Nichtdeutschen vorliegt, das die rot- grüne Regierung in Bonn in ihren Koalitionsvereinbarungen vergangene Woche beschlossen hat.

Und tatsächlich scheint das Interesse immens zu sein. Petra Mikoleit, Ausländerbeauftragte und Leiterin der Einbürgerungsstelle in Berlin-Wedding, hat in den vergangenen Tagen täglich rund 30 Anfragen bekommen, überwiegend von Türken. Doch: „Viele, die bei uns vorsprechen, meinen, daß es das Gesetz bereits gibt“, sagt Mikoleit. Sie könne die Menschen nur grundsätzlich über die anstehenden Änderungen aufklären. Viele wollen jetzt ihren alten Antrag stornieren lassen und auf die Neuregelung warten.

Doch wie viele der 440.000 gemeldeten Nichtdeutschen in Berlin, darunter knapp 140.000 TürkInnen, sich tatsächlich einbürgern lassen wollen oder können, ist bisher unklar. Nach Angaben des Türkischen Bundes sind 95.000 TürkInnen über 18 Jahre alt. Drei Viertel von ihnen, schätzt Kolat, erfüllen die rechtlichen Bedingungen für eine Einbürgerung. Wie viele Kinder eingebürgert werden könnten – darüber liegen der türkischen Organisation keine Angaben vor. Ingesamt werden in Berlin pro Jahr rund 6.000 nichtdeutsche Kinder geboren. Wenn ein Elternteil bereits hier geboren wurde oder im Alter von unter 14 Jahren eingewandert ist, werden sie künftig automatisch Deutsche. Die Ausländerbeauftragte des Berliner Senats, Barbara John (CDU), schätzt, daß das neue Recht „einige hundert Kinder jährlich betreffen wird“.

Schon jetzt klagen die MitarbeiterInnen der Einbürgerungsämter in den 23 Berliner Bezirken über den immensen Arbeitsaufwand. Bisher sind in der Hauptstadt insgesamt 50.000 Nichtdeutsche, davon die Hälfte Türken, eingebürgert worden, 45.000 Anträge hängen derzeit in der Warteschleife der Ämter (s. Kasten). Ohne Aufstockung des Personals, befürchtet Kolat, werde die Einbürgerung künftig „zehn statt zwei Jahre dauern“. Derzeit dauere eine Einbürgerung „drei Monate bis mehrere Jahre“, sagt Mikoleit.

Nach den Erfahrungen in den Einbürgerungsbehörden kommmen die Antragsteller aus allen sozialen Schichten. Das wird sich auch zukünftig nicht ändern. Der junge Mann ohne Schulabschluß, der in der Döner-Bude seines Vaters arbeitet, wird genauso wie der Betriebswirtschaftsstudent oder das mittlerweile pensonierte Ehepaar, das seit 40 Jahren in Berlin lebt, einen Antrag stellen. Der Hauptgrund, so hat Petra Mikoleit in ihrer langjährigen Arbeit erfahren, sei immer die Aussicht auf einen gefestigten Aufenthaltsstatus gewesen. Bei den Jüngeren habe auch die Hoffnung auf bessere Ausbildungschancen eine große Rolle gespielt. „Das subjektive Gefühl, Deutscher zu werden, taucht aber nur am Rande auf“, sagt Mikoleit.

Eine Telefonumfrage der Senats-Ausländerbeauftragten unter 1.000 türkischen Jugendlichen zwischen 16 und 25 Jahren im vergangenen Jahr hat ergeben, daß rund 60 Prozent die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen wollten, auch wenn die türkische dafür aufgegeben werden müsse.

Ob die Einbürgerungswilligen nach der neuen Regelung aber tatsächlich die Berliner Ämter „stürmen“ werden, wie Kenan Kolat sich ausdrückt, darüber gehen die Meinungen auseinander. Andreas Freudenberg, Geschäftsführer der Werkstatt der Kulturen der Welt, glaubt, daß durch die Möglichkeit der doppelten Staatsbürgerschaft die „psychologischen Hürden“ bei denjenigen fallen werden, die bisher von einer Einbürgerung Abstand genommen haben. Jetzt sei sie „ohne Druck und Zwang“ möglich. Barbara John, seit 17 Jahren Ausländerbeauftragte, ist da etwas vorsichtiger: „Die erste Reaktion war sicherlich wie ein großes Fest“, sagt sie. Die doppelte Staatsbürgerschaft habe einem „Wunschbild“ entsprochen, von dem viele nie geglaubt haben, daß es irgendwann wahr werde. Doch werde solch ein langgehegter Wunsch Realität, dann wüßten viele nicht, ob sie ihn sich überhaupt erfüllen sollten, sagt sie etwas pathetisch. John hält die geplante Einführung des Geburtsrechts für „markant und grundsätzlich“.

Einigkeit herrscht jedoch darüber, daß das neue Staatsbürgerschaftsrecht hilfreich sei, aber dadurch keine „Integrations-Automatik“ entstehe. „Es wäre fatal zu sagen, durch den deutschen Paß seid ihr integriert“, sagt Emine Demirbüken (CDU), Ausländerbeauftragte in Berlin-Schöneberg. Integration erfolge durch die Sprache, die Anerkennung der unterschiedlichen Religionen und Kulturen. Doch zumindest werde durch die rechtliche Gleichstellung das Selbstwertgefühl gestärkt: „Das Dasein ist jetzt erwünscht“, glaubt Özcan Mutlu, grüner Abgeordneter im Bezirk Kreuzberg. „Es vermittelt das Gefühl, daß man hierhergehört.“ Das ist insbesondere für die jungen Nichtdeutschen, die hier geboren und aufgewachsen sind, wichtig. Für sie sei es „unerträglich gewesen, immer unter einem anderen „Etikett“ zu laufen, sagt Andreas Freundenberg. „Wenn jetzt die formal-rechtliche Sperre überwunden ist, ist das eine gute Voraussetzung für weitere soziale Prozesse.“