■ Tempolimit für die Ökowende
: Rot-Grün darf Reformprojekte nicht auf die lange Bank schieben

Die Parteitage von SPD und Grünen haben noch gar nicht das Koalitionspapier gebilligt, da entfaltet es schon Wirkung: Frankfurt stoppt die weitere Ausschilderung von Tempo-30- Zonen, weil es die neue Möglichkeit nutzen will, künftig Tempo 30 zur Regelgeschwindigkeit zu machen und nur noch in einigen Hauptstraßen Tempo 50 auszuweisen. Das ist typisch für das Papier, das ganz sicher nicht das geworden ist, vor dem die Konservativen immer gewarnt haben: die „rot- grüne Wende“. Abgesehen vom Atomausstieg ist es vielmehr eine Sammlung moderater Reformvorhaben.

In der Summe sind sie dennoch ehrgeizig: insbesondere im Umweltteil. Allen voran steht die Aufstellung eines Umweltplans mit konkreten Zielen quer durch alle Ressorts. Weiter sollen etwa der Umfang der geschützten Naturflächen verdreifacht, die Sommersmog-Verordnung verschärft, mit der Kreislaufwirtschaft „Ernst gemacht“ und Chemikalien, die sich dauerhaft anreichern, „so weit wie möglich“ verboten werden. Umweltverbände erhalten ein Verbandsklagerecht. Schließlich sollen alle geplanten Autobahnprojekte und Zugtrassen überprüft werden, ein „möglichst hoher Anteil“ des Verkehrs auf die Schiene kommen. Alles Dinge, um die unter Kohl jahrelang vergeblich gestritten wurde.

Tempolimit für die Ökowende Rot-Grün darf Reformprojekte nicht auf die lange Bank schieben

Der Umweltgedanke zieht sich durch den gesamten Vertrag: Da sollen die Instrumente zum Wohnungsbau so genutzt werden, daß weitere Zersiedelung der Natur möglichst unterbleibt oder bei WTO-Verhandlungen „ökologische Standards“ durchgesetzt werden. Die neue Regierung will Ökovorreiter in Europa werden und in der EU Initiativen zu Energie- und Flugbenzinsteuer starten.

Die maßlose Prügel, die Rot-Grün derzeit wegen der lächerlich kleinen Ökosteuer aus Wirtschaft und selbst Gewerkschaften bezieht, scheint der neuen Regierung recht zu geben, die Änderungen sachte anzugehen. Und es erscheint geradezu geschickt, daß sich die Koalitionäre nicht durch so emotionsbelastete Beschlüssen wie ein Tempolimit auf Autobahnen belasten. Ähnlich beim Atomausstiegsbeschluß: Die den Stromkonzernen angebotenen Konsensverhandlungen nehmen ihm erst einmal die Spitze – gleichzeitig machen die Koalitionäre Druck durch eine Verschärfung der Sicherheitsanforderungen und der Androhung eines Ausstiegsgesetzes spätestens in einem Jahr. Auch rechtlich macht das Sinn. Das Beispiel Schweden zeigt, wie schnell ein Ausstiegsbeschluß in den Gerichten hängenbleiben kann. Ein Ausstieg im Konsens würde dieses Risiko beseitigen.

Freilich können Grüne und SPD nicht ewig so tun, als müßten sie erst noch gewählt werden. Dem sachten Einstieg zum Gewöhnen müssen beherzte Taten folgen. Leider ist die Zurüchhaltung nicht nur Taktik. Vor allem der Verkehrs- und der Energieteil zeigen deutliche Spuren der Blockade rechter Sozialdemokraten. So kommt das Wort „Verkehrsvermeidung“ im Vertrag gar nicht vor, und es gibt ein klares Bekenntnis zur „Entwicklung des Weltluftverkehrs“. Die Ökosteuer gilt für Öl und Gas zum Heizen, nicht aber für Kohle. Im Gegenteil: „Heimischen Energieträgern“ sollen „faire Marktchancen“ gesichert werden. Die Förderung von Sonnen- und Windenergie bleibt vage, für die Ökosteuer gibt es eine Ausstiegsklausel bei schlechter Konjunktur – selbst SPD-Umweltpolitiker schimpften über das „Minenfeld der energiewirtschaftlichen Interessen“, und ein grüner Unterhändler klagte, „wir mußten viele Position aus dem SPD-Parteiprogramm gegen Sozialdemokraten durchdrücken – und dafür bei eigenen Vorschlägen bluten“.

Dennoch ist es den Partnern gelungen, dank reibungsloser, fast langweiliger Verhandlungen einen geschlossenen Eindruck zu vermitteln. Das nützt den Grünen, die so bei kommenden Koalitionskrach – ohnehin auf schwächerem Posten – nicht gleich als Querulanten dastehen. Konfliktstoff gibt es genug: lauter offene Fragen, ob bei der Frist des Atomausstiegs, den nächsten Ökosteuerschritten oder der Bundeswehrstärke. Wollen sich die Koalitionspartner nicht rettungslos darin verrennen, sollten sie rasch ein paar kleinere Reformen durchziehen, vorzeigbare Symbole für Rot- Grün. Dafür lieferte der Koalitionsvertrag erfrischend viele Ansätze. Ohne solche Gemeinsamkeit stiftende Symbole könnte sich Rot-Grün rasch zerstreiten oder schlimmer: ihre Politik der „Neuen Mitte“ zum neuen Mittelmaß verkommen lassen. Matthias Urbach