Der Feingeist der Proleten

Es ist ein beliebtes Märchen, die Bundesrepublik habe sich dank ihrer Hochkultur zivilisiert. Im Gegenteil fand die Demokratisierung der Eliten aus dem Geist der Massenkultur heraus statt. Dafür stehen Namen wie Johannes Mario Simmel, Lilli Palmer, Oswalt Kolle, Conny Froboess, Peter Kraus oder Hildegard Knef – ihre Lieder und Geschichten vor allem prägten eine Kultur, die Chancen auf ein besseres Leben ohne Kommißton und Autoritätsgläubigkeit aufzeigte. XXVII. und vorletzter Teil der Serie „50 Jahre neue Deutschland“ Eine Polemik von Lothar Mikos

ie Nachkriegsgesellschaft war ja zunächst darauf erpicht, sich wieder Ansehen in der Welt zu verschaffen. Das gelang zunächst sportlich, mit dem Gewinn der Fußballweltmeisterschaft 1954 vor allem. Sepp Herberger, der Fußballtrainer, wurde mit seinen Tugenden der Bescheidenheit, der Leistungsorientierung sowie seinem kleinbürgerlichen Lebensstil (Couchgarnitur, Opel) zu einer Symbolfigur der jungen Bundesrepublik. Der Volkssport Fußball brachte dem Land somit einen ersten Demokratisierungsschub – die Einübung in die neuen demokratischen Verhältnisse war nicht mehr nur mit dem Gefühl der Kapitulation verbunden.

Viel gewichtiger für die Demokratisierung der Bundesrepublik war die sogenannte Massenkultur. Nicht mehr die Elite mit ihrem auf erhabenen Genuß zielenden Geschmack an hoher Kunst bestimmte die ästhetischen Orientierungen, sondern die Massen – Proleten, Kleinbürger, Nichtbildungsbürger – mit ihrem an populären Vergnügungen orientierten Sinn. Dazu trug die spezifisch deutsche Aneignung amerikanischer Kulturmuster ebenso bei wie die Entwicklung der Medien, insbesondere des Fernsehens und des Musikmarktes, die mit anderen Errungenschaften der Wirtschaftswunderzeit korrespondierten: Urlaubsreisen in ferne Länder, Konsumartikel in Hülle und Fülle und natürlich Kulturprodukte aller Art, die in der wachsenden Freizeit genossen werden konnten, etwa in Konzerten, auf Schallplatten, mit Hilfe von Buchclubs und Theaterabonnements.

Proletarische Lebensformen weckten zunehmend Interesse und fanden gelegentlich sogar soziale Anerkennung im Bürgertum. Populäre Literatur und Musik, populäre Filme und Fernsehsendungen verbreiteten sich rasch, obwohl die traditionellen Eliten in der Vereinheitlichung und Trivialisierung der Kultur den Untergang des Abendlandes heraufziehen sahen.

Von Vereinheitlichung konnte bei der Verbreitung der Massenkultur jedoch keine Rede sein. Sie differenzierte sich ebenso aus wie die Gesellschaft, deren Teil sie war. Der Kulturwissenschaftler Kaspar Maase hat zu Recht darauf hingewiesen, daß die sogenannte Postmoderne mit ihren pluralisierten Lebens- und Kulturformen ohne die Massenkultur nicht denkbar gewesen wäre. Die Unterschiede in der Gesellschaft, soziale und ökonomische, politische und kulturelle, wurden immer wieder mit Gemeinsamkeiten kultureller Vorlieben verringert. Die Kulturindustrie lebt zwar von der Differenz, doch muß sie immer den Versuch machen, die Differenz einzuebnen und zu vermarkten, um neue Differenzierungs- und damit neue Vermarktungschancen zu produzieren. Nur so kann sie überhaupt weiter existieren.

Massenkultur habe nur bedingt mit inhaltlichen Botschaften zur Demokratisierung beitragen, „eher durch die Annäherung von Praktiken und Wertmaßstäben“, so Maase. Und das heißt: Populärkultur ist nicht nur Produkt der von Max Horkheimer und Theodor Adorno – die Stichwortgeber der Achtundsechziger-Ära – geschmähten Kulturindustrie, sie wird vielmehr erst im Gebrauch der Massen geschaffen – und zwar mit Raffinesse.

Das zeigte sich seit den fünfziger Jahren deutlich im Umgang der Jugendlichen mit populärer Musik. Sie nutzten die Musik, um sich im Sinne kreativen Konsums eigene Räume zu erobern, mit denen sie sich gegen die Erwachsenen und andere Autoritäten abgrenzen konnten. Das begann bereits mit Chubby Checker und seinem „Let's Twist Again“ und setzte sich mit Bill Haley und Elvis Presley und den deutschen Rock 'n' Rollern Peter Kraus und Conny Froboess fort.

So wurden die Jugendlichen als Marktsegment entdeckt. Doch die so Umworbenen zelebrierten weiter ihren speziellen Eigensinn. Sie interpretierten ihr Idol James Dean („... denn sie wissen nicht, was sie tun“) auf ihre Weise, eben als Rebell gegen die starre Welt der Erwachsenen, auch wenn Dean als Filmfigur für eben genau jene bürgerlichen Familienwerte eintrat, gegen die sie kämpften.

nd die Bravo, seit 1956 Leitmedium der deutschen Jugendkultur, unterstützte sie dabei. Die Revolten der sechziger Jahre wurden begleitet vom „Love & Peace“-Gedanken der Woodstock-Generation und den drogenumnebelten Lebensformen der Hippies. In den siebziger Jahren kamen dann Disco und Glamrock und der Punk. Santa Esmeraldas Discoversion des alten Rhythm-'n'-Blues-Songs „Don't Let Me Be Misunderstood“ war in den siebziger Jahren ebenso lebensgefühlprägend wie die „Rocky Horror Picture Show“ und David Bowie als „Ziggy Stardust“. Die Verbindung von Musik- und Filmindustrie, TV und populärer Literatur wurde immer offensichtlicher und konnte so als intermediale Populärkultur erst ihr befreiendes Potential entfalten.

Von diesen kulturellen Umbrüchen seit den fünfziger Jahren ist letztlich mehr geblieben als von den politischen Zielen der vielbeschworenen Achtundsechziger. Das zeigte sich auch in der populären Literatur in der Bundesrepublik der sechziger und siebziger Jahre. Die Lilli-Palmer-Biographie „Dicke Lilli, gutes Kind“ und die Hildegard-Knef-Biographie „Der geschenkte Gaul“ waren ebensolche Verkaufsschlager wie die Romane des sozialdemokratisch inspirierten Johannes Mario Simmel: „Es muß nicht immer Kaviar sein“. Gerade der Erfolg von Simmel beruhte unter anderem darauf, daß er sich einer fast schon postmodern zu nennenden Schreibweise bediente, die Elemente der Populärkultur verarbeitete, zum Beispiel Liedtexte von Frank Sinatra oder Bob Dylan, ohne die Leserschaft auf einen Subkultursound zu verpflichten.

Die Biographien von Lilli Palmer und Hildegard Knef zeigten Frauen im Aufbruch, die ein erfolgreiches Leben zwischen Selbst- und Fremdbestimmung zu leben versuchen. Sie dürften die Emanzipationsbestrebungen der Frauen mehr beeinflußt haben als Alice Schwarzer oder feministische Zeitungen wie die Courage. Die „Winnetou“-Filme der sechziger Jahre trugen vermutlich mehr zur Auseinandersetzung mit den Rechten amerikanischer Ureinwohner bei als die Initiativen von amnesty international. Für das öffentliche Sprechen über Sexualität darf die Bedeutung von Oswalt Kolle nicht unterschätzt werden, der sich mit seinem Aufklärungsbemühen nahtlos in sozialdemokratische Bildungsbestrebungen einfügte. Kolle verhalf dem Körper mehr zu seinen sexuellen Rechten, als es Günter Amendt („Sexfront“) je konnte.

Überhaupt war Körperlichkeit ein wesentliches Merkmal von Populärkultur. Der in der protestantischen Arbeitsethik der Leistungsgesellschaft und der bürgerlichen Zivilisation disziplinierte Körper fand in den Freuden, die die wilden Tänze populärer Musikstile boten, einen Weg, sich aus den Fesseln zivilisatorischer Bemühungen zu befreien. Ironie der Geschichte: Mit der Betonung von Körper und Körperlichkeit fanden zentrale Werte der Arbeiterschaft ihren Weg in das kulturelle Gemeingut der Bundesrepublik.

Die Ausgrenzungsversuche, die das konservative Bürgertum unternahm – sei es bei den Halbstarken der fünfziger Jahre oder den Punks der siebziger Jahre –, konnten nur magere Erfolge verzeichnen. Die Idee, daß andere Lebensentwürfe erlaubt sind, hat sich durchsetzen können.

Während jedoch in den fünfziger Jahren populäre Musik und die damit verbunden Tanzformen eine Befreiung des Körpers von den Zwängen der protestantischen Arbeitsethik und den Zwängen bürgerlicher (Sexual-)Moral bedeutete, wird der Körper heute in den entsexualisierten und maschinisierten Räumen der Technobewegung genau darauf wieder eingeschworen. Der Eigensinn, der sich in der Aneignung und im Konsum populärkultureller Produkte in den vergangenen Jahren zeigte, wird hier in sein Gegenteil verkehrt. Freiheitsräume werden nicht mehr gegen die Gesellschaft, sondern im Rahmen der herrschenden Arbeitsmoral durchgesetzt – eine Entwicklung von den wilden Teddyboys des Rock 'n' Roll zu den ProtagonistInnen des Techno und der Loveparades.

aß eine Veranstaltung wie die Love Parade als politische Demonstration gelten kann, ist im Sinne der von der Massenkultur initiierten Demokratisierung trotzdem konsequent. Auch wenn wir es dabei mit einer durch und durch kommerzialisierten Veranstaltung zu tun haben. Was ihr aber zu fehlen scheint, ist der Eigensinn der Konsumenten. In der Love Parade kommt die Kulturindustrie als Verblendungszusammenhang zu sich selbst.

Die wesentlichen Veränderungen, die den Demokratisierungsprozeß in den letzten fünfzig Jahren Deutschland gefördert haben, fanden auf ästhetischem Feld statt. Zu den pluralistischen Lebensauffassungen der Nachnazizeit haben Conny Froboess & Ted Herold, Oswalt Kolle & Uschi Glas, Disco & Punk, Asterix & Donald Duck mehr beigetragen als die HeldInnen der Hochkultur, heißen sie nun Alice Schwarzer, Heinrich Böll, Günter Grass, Martin Walser, Volker Schlöndorff oder Wim Wenders.

Die Popkultur setzte den Spaß gegen die Tiefsinnigkeiten der Gruppe 47 und anderer kultureller Gruppen – was zu einer Lässigkeit im Umgang mit kulturellen Gütern führte. Lässigkeit, also Coolness, ist eine Tugend, die die Weisen auszeichnet, nicht Belehrung oder Aufklärung. Und die Möglichkeiten der Populärkultur sind noch längst nicht ausgeschöpft. Sie bleibt attraktiv, weil in ihr stets Möglichkeitsräume liegen: Chancen, andere Lebensformen zu erkennen.

In ein paar Jahren wird von der ersten rot-grünen Bundesregierung weniger geblieben sein als von einem der populärsten Musikstile in der Bundesrepublik, dem HipHop. Wir werden sehen.

Lothar Mikos, 44, kleinstädtisch in Niedersachsen aufgewachsen, ist Medienwissenschaftsprofessor an der Kunsthochschule für Film und Fernsehen in Potsdam