Wer hat, dem wird gegeben

ie wurde so viel vererbt wie heute. Mehr als 2,5 Billionen Mark (2.500.000.000.000 Mark) in Form von Geld, Aktien, Häusern und Schmuck wechseln innerhalb von wenigen Jahren die Besitzer – das ist etwa so viel, wie der deutsche Finanzminister in fünf Jahren ausgeben darf. Deutsche, die am Ende der Weimarer Republik geboren wurden, erreichen nach und nach das Alter, in dem zumindest die Versicherungen mit ihrem Ableben rechnen.

Keine Generation vorher hat so viel Vermögen ansammeln können wie die heutigen Ruheständler: Sie starteten ihr Berufsleben in der Zeit des Wirtschaftswunders und erlebten danach fast stetiges Wachstum. Löhne und Gehälter stiegen seit Anfang der sechziger Jahre wesentlich schneller als die Lebenshaltungskosten. Und wer wollte, hatte einen Job. Auch viele Arbeiter konnten ein erkleckliches Sümmchen auf die Seite legen oder in ein Haus investieren. Etwa eine Million Häuser werden in diesen Jahren hinterlassen.

Fast jeder zweite Westdeutsche, der zwischen 1950 und 1965 geboren wurde, kommt so in den Genuß eines Besitzstandes, für den er selbst nichts getan hat. Zwar werden zunehmend auch Freunde, die Aids-Hilfe oder Tierschutzvereine bedacht, wenn es ums Vererben geht. Doch der Löwenanteil bleibt nach wie vor in der Familie. Statistisch gesehen erhielt der Durchschnittserbe 1996 Werte in Höhe von etwa 250.000 Mark. Im Jahr 2002 werden es sogar 470.000 Mark sein, hat die Kölner Unternehmensberatung BBE errechnet. Doch diese Zahl täuscht. Denn die Hälfte der Nachlaßprofiteure kassiert lediglich zwischen 1.000 und 48.000 Mark, während zwei Prozent zu Millionären oder Multimillionären avancieren.

Die Schere zwischen Reichen und Habenichtsen wird in Zukunft noch weiter aufklappen. Denn wie in feudalen Zeiten gilt das „Matthäus-Prinzip“: Wer hat, dem wird gegeben. Der Staat unterstützt diese Entwicklung. Gerade einmal 4,8 Milliarden Mark mußten die Erben 1998 an den Fiskus überweisen – kaum mehr, als der Staat in Form von Branntweinsteuer einnimmt. Die Vermögenssteuer wird nach einem Bundesverfassungsgerichtsurteil von 1995 gar nicht mehr erhoben. Derweil drückte die arbeitende Bevölkerung vergangenes Jahr über 258 Milliarden Mark als Lohnsteuer ab – von wegen, Leistung muß sich wieder lohnen.

Bei der Novellierung des Erbschaftsrechts wurden 1997 zwar die Steuersätze angehoben und die bis dato völlig unterbewerteten Immobilien ein bißchen realistischer eingeschätzt. Doch zugleich beschlossen Politiker von CSU bis SPD in frommer Eintracht, auch die Freibeträge für die Begünstigten deutlich anzuheben. Ehegatten dürfen die ersten 600.000 Mark ohne Abzüge behalten, Kindern steht ein Freibetrag von 400.000 Mark zu. Einfamilien- und kleine Mietshäuser können so meist weitergegeben werden, ohne daß die öffentliche Hand eine einzige Mark kassiert. Für Unternehmen gelten noch höhere Sätze. So bezahlen eine Witwe und ihre beiden Kinder beispielsweise für die Übernahme eines Betriebs mit einem Verkehrswert von 2,7 Millionen Mark keinen Pfennig an den Staat. Wer rechtzeitig anfängt, seinen Lieben das Vermögen zu übertragen, kann noch weitaus höhere Beträge am Fiskus vorbeischleusen. Deutlich schlechter gestellt sind dagegen Leute, die in keinem verwandtschaftlichen Verhältnis zum Erblasser stehen. Zwar hat die neue Bundesregierung eine Arbeitsgruppe eingesetzt, die Vorschläge für eine Korrektur der nach wie vor viel zu niedrigen Bewertung vererbter Immobilien vorlegen soll. Und die Bündnisgrünen wünschen sich, daß Wahlverwandte tendenziell mit den Blutsverwandten gleichgestellt werden. Doch am Prinzip will niemand rütteln. So rechnen Experten damit, daß auch nach einer weiteren Novelle allenfalls eine Milliarde Mark mehr für den Fiskus rausspringt. Das wäre weniger als ein halber Prozentpunkt – „peanuts“ im Vergleich zu den Summen, um die es geht. Doch Bundeswirtschaftsminister Werner Müller hat längst abgewinkt: Zumindestens in dieser Legislaturperiode wird es nichts mehr mit einer Erhöhung der Erbschaftssteuer. Dabei hat er volle Unterstützung von Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt, der eine Erhöhung der Erbschaftssteuer bereits als „äußerst schädlich“ abqualifizierte.

Warum eigentlich? Erben erweist sich oft als Hemmschuh für Unternehmertum und Innovationsfreude: Es fördert reiche Müßiggänger und nicht Leute, die sich etwas Neues ausdenken und so die Wirtschaft in Schwung halten. Erben verschafft aber auch einen Freiraum. Wer nicht aufs Geld angewiesen ist, sollte nur das tun, was den eigenen Wünschen und Vorstellungen entspricht. Alles andere wäre Dummheit. So oder so: Auf welcher Seite jemand steht, beeinflußt Perspektive und Handeln. Würde die Autorin dieses Textes nicht nur zur Generation der Erben, sondern auch zu den Erben zählen, wäre dieser Text so nie geschrieben worden.

Annette Jensen