Berlin-Buch-Boom
: Weiches Nest für Müßiggangster

■ Liebeserklärung an idealistische Illusionisten: Martin Keunes sogenannter Szene-Krimi „Die Mertens-Puppe“

Das Grauen passiert immer woanders. Los Angeles, Hongkong, der Norden Norwegens und selbst die tiefste deutsche Provinz scheinen mehr Stoff für Krimis herzugeben als Berlin. Berlin ist einfach harmlos.

Hier gibt es keine mondänen, heimlichen Unheimlichkeiten, nichts hat hier den nötigen Glam: das sogenannte Rotlichtmilieu trifft sich mittags an der Pommesbude, die Zwangsneurosen der Vereinsamten spielen sich in der U-Bahn ab. Vorabendserien, die sich von der Gemütlichkeit einer „Praxis Bülowbogen“ verabschieden und mit der Aufgeregtheit Berlins brüsten, haben von vornherein ausgespielt. Das Berlin als Krimikulisse ist aus Pappmaché, und die Kulisse wackelt sofort, tippt man sie an.

Auch der Deutsche Taschenbuch Verlag setzt momentan mit Reihen wie dem „Boulevard Berlin“ und Krimis wie „Die Mertens-Puppe“ aus „der Berliner Szene“ auf die „faszinierende Hauptstadt“ – so der Klappentext von Martin Keunes „Die Mertens-Puppe“. Doch eigentlich passiert in diesem Roman so gut wie gar nichts, nur ein völlig unspektakulärer Autounfall am Anfang und ein weiterer am Ende.

Mertens, ein ekelhafter Neureicher, überfährt aus Versehen ein Kind und begeht Fahrerflucht. Paula wird Zeugin des Unfalls. Weil sie als einzige Zeugin dem mit Staranwälten und Superalibis ausgestatteten Mertens nichts anhaben kann, verfolgt sie ihn mit sehr originellem Psychoterror: fängt seine Post ab, setzt Annoncen mit seiner Telefonnummer in japanische Teenagerzeitschriften oder das Gerücht in Umlauf, Michael Jackson, der gerade in der Stadt ist, sei bei ihm abgestiegen. Am Ende ziemlich fahrig, fährt sich Mertens ungewollt selbst tot.

Das alles sorgt ja nun für alles andere als Gänsehaut. Wer, wie vom Verlag angekündigt, mitgerissen werden will, der wird bei dieser Lektüre alle drei Seiten selig wegdämmern. Doch wer etwas über die Provinz Berlin, ihre bezaubernden Plumpheiten und Anachronismen wissen will, der liegt mit diesem sogenannten Krimi ganz richtig.

Die Figuren des Romans „Die Mertens-Puppe“ sind einleuchtend geschildert: Da ist zunächst der hähnchenbraune Makler mit Villa in Dahlem, Jaguar und Pitbull. Wegen Keunes überanstrengtem Willen zur Milieustudie steht Mertens sich oft als sein eigenes Klischee im Weg – es kann schon mal vorkommen, daß in seiner Nähe von siebzehnjährigen „Kleinen“, die ganz schön „angedreißigt“ aussehen, die Schreibe ist. Neben einem brav ausgearbeiteten, sympathischen, illusionsfreien Bullen mit künstlicher Nase gibt es aber vor allem einen prima weltfremden, übergewichtigen Exfreund, der von Beruf Restauranttester ist.

Der geht nur aus, wenn es wirklich nicht anders geht, und findet dann alles zu schrill und kitschig. Vom Heimweh nach Schwaben geplagt, weiß er quasi von der Küche aus mehr über die Stadt als seine lebenslustigen Mitspieler. Noch Jahre nach der Trennung liebt er Paula, die besagte Augenzeugin. Paula hat eine grelle Vergangenheit. Mit vierzehn Hausbesetzerin, verfügt sie heute über einen bis ins Hysterische reichenden Gerechtigkeitssinn. Die schicken neuen Bars überall sind ihr zuwider. Ebenso die steigenden Mieten und der Potsdamer Platz. Sie will das tote Kind rächen.

„Die Mertens-Puppe“ ist ein Buch, das schleunigst verfilmt werden sollte: Am besten mit Christiane Paul in der Hauptrolle. Würde ein netter, nicht ganz irritationsfreier neuer deutscher Film draus werden. Christiane Paul gäbe die ideale Illusionistin, die noch nicht ganz im bürgerlichen Alltag angekommen ist. Die vielen retardierenden Stellen und überflüssigen Figuren im Buch würden für einen angenehm abwechslungslosen Film sorgen, der Berlins Schokoladenseite zeigt: die Stadt als weiches Nest für arbeitsscheue Träumer und Müßiggangster.

Susanne Messmer

Martin Keune: „Die Mertens-Puppe“. dtv, 160 S., 16,90 DM