Das Mauern des Denkers

Beim Philosophicum im österreichischen Lech erfindet Peter Sloterdijk die „Starnberger Fatwa“ und umrankt mit blumiger Rhetorik die Grenzen der Philosophie  ■   Von Sabine Leucht

Das Dorf im westlichsten Teil Österreichs ist so etwas wie die Wiege des Skisports, und sommers wie winters treffen hier Bergwanderer, Radfahrer und Milchkühe aufeinander. Das sind ganz unbedingt die Handfesten unter den Irdischen – sie lieben die reine Luft, den Schweiß und die morgendliche Milch. Im Herbst aber sitzt schon die Kälte in den Bergen. Und lange vor dem ersten Schnee kommen die Philosophen.

So bringt die Invasion der Denker schon im dritten Jahr rhetorischen Schwung in die 1.450 Meter hoch gelegene Idylle von Lech am Arlberg: 1997 wurden „Die Blumen des Bösen“ gefleddert, dem 98er „Rausch der Sinne“ hetzte in diesem Jahr „Die Furie des Verschwindens“ nach. Würde wohl Peter Sloterdijk diese Reihung dynamischer Zitate aus Dichter- und Philosophenmund schon unter „Erregungsproduktion“ fassen? Dieses Label nämlich hat er den Medien geschenkt, die jüngst seinen im Juli auf Schloss Elmau gehaltenen Vortrag entlang der Idee eines „Menschenparks“ als faschistoid gebrandmarkt haben (die taz berichtete).

Nun hat der Gescholtene in der Sache durchaus Recht: Thomas Assheuers furiose Attacke auf Sloterdijks „Zarathustra-Projekt“ in der Zeit ist nach der Lektüre des Originaltextes kaum nachvollziehbar. Mehr Schaum als Korpus – könnte man der Welle nachsagen, die gegenwärtig durch die deutschsprachigen Feuilletons rollt und den Karlsruher Professor als fehlendes Glied zwischen Nietzsches Traum vom „Übermenschen“ und den von der Gentechnik aufgespannten Horizonten sehen will. Doch ist es eben diese Welle, auf der Sloterdijk gegenwärtig ganz gut zu surfen versteht.

Am vergangenen Wochenende ist er mit ihr ins Lecher Philosophicum geschwappt: Was immer namhafte Referenten über die „Architektur des Verschwindens“ (Friedrich Achleitner) oder „Neuerungssucht und Wiederholungszwang“ (Marianne Gronemeyer) zu sagen hatten, das Medieninteresse galt unbenommen dem ersten postskandalösen Auftritt der Skandalnudel. Die erschien außerplanmäßig schon am Abend vor ihrem Vortragstermin zu einer Fragestunde vor den Berufsschaumschlägern und empfahl ihnen entspannt, ihr „inneres Paparazzotum“ zu zähmen. Es fielen freundliche Worte von „Starnberger Fatwa“, „Linksfaschisten“ und „Mudschaheddins“. Und nachdem Sloterdijk Rainer Stephan von der Süddeutschen Zeitung(SZ) als „Fanatiker“ enttarnt hatte, hielt er die Restpresse zur sachlichen „Re-Intellektualisierung der Debatte“ an. Nun, wenn einer auf diesem Weg schon so beherzt vorangeht – wohlan!

Zunächst das eine: Sloterdijks sommerliche Rede ist verglichen mit ihrem Medienecho von überraschender Harmlosigkeit. Der postheideggerische Abgesang auf das humanistische Menschenideal des sich selbst zähmenden Tiers schreibt zugleich die dunkle und verborgene Seite der in ihm wohnenden „Bildungs“-Gedanken fort. Das alles ist – freilich weniger linear – schon in Norbert Elias' Geschichte des Zivilisationsprozesses angedacht und hält den Menschen immerhin auch in Zukunft für möglich, während andernorts längst das „posthumane“ Norbert-(Bolz)-Zeitalter eingeläutet wurde. Dass Sloterdijks „philosophisches Nachtstück“ (Selbstzitat) dennoch verständlicherweise missverstanden wurde, liegt an seinem leichtfertigen Umgang mit dem eigenen rhetorischen Überschwang: Der Sprung von der Lesekultur zur „Auslese“ und von der Selbstzucht zur Menschenzüchtung skandalisiert vor allem auf Grund der Assoziationen, die er ins Rollen bringt. Schon Anfang des Jahres hat Sloterdijk in der SZ „Hochkultur“ gegen populäres „Event Management“ antreten lassen. Als Vertreter der ersteren feierte er Dieter Dorn – Noch-Intendant und Klassikerregisseur der Münchner Kammerspiele. In dem damals zu dessen Nachfolger gekürten Frank Baumbauer witterte Sloterdijk den Kulturclown, der mit dem Bildungspöbel gemeinsame Sache macht. Schon damals konnte man sehen, wie harsch Sloterdijk alle attackiert, die in anderen Kategorien als den seinen zu denken wagen. Heute steht der Philosophenkollege Jürgen Habermas am Pranger, damals war es die SZ-Kritikerin Christine Dössel, deren Verbrechen darin bestand, mehr von den Feinheiten des Theaters zu verstehen.

Masse gegen Klasse und Angriff als die beste Verteidigung: Die „Erregungsdemokratie“, die Sloterdijk geißelt, hat in ihm selbst nicht ihren schlechtesten Protagonisten. Gleichwohl beharrt er in Lech auf seiner stets „sorgenvollen Tonart“ und führt die Fragen der Reporter durchaus stilvoll auf Nebenschauplätzen spazieren. Und davon stehen dem belesenen Autor der „Kritik der zynischen Vernunft“ etliche zur Verfügung. Wie in seinen Texten fängt er nomadisierende Stichworte ein und webt in die Zwischenräume kunstvoll Gedanken. Diesem Gespinst zu folgen ist keine unangenehme gymnastische Übung, doch ist oft schwer zu unterscheiden zwischen Paraphrase, Analyse und dem Befestigen der eigenen Position in der Nachbarschaft von Heidegger, Nietzsche und Zeitgeist.

In Lech nun hat Sloterdijk diese Unschärfe im Umgang mit dem Skandalösen als Pose vorgeführt: Er freut sich über die Diskussionen, die er losgetreten hat, und statt den geplanten Vortrag über „Das Verschwinden als Aufbewahrung“ zu halten, las er aus dem 2. Band seiner „Sphären“: Über die Zeichensprache der mesopotamischen Stadtmauern, mit deren Hilfe der Gott-König seine imperiale Innenwelt umkränzt und seine Macht nach außen sichtbar macht. Und vom römischen Amphitheater, wo der Sieger mit der Menge angesichts immer neuer Toter das (vorläufige) Weiterleben feiert.

Diese Textstellen sind pfiffig ausgewählt und bauen weiter an der Mauer der hermetisch erscheinenden Sloterdijk-Welt. Denn ist die Arena für ihn Sinnbild der barbarischen Massenkultur, in deren Mitte sich das „Mittelmaß“ austobt, bringt er im Anschluss an die Idee der Mauer plötzlich zum Gottesbeweis den Schöpfergott als „Originalpfuscher“ ins Spiel und damit die Frage, ob der „kluge Kunde Mensch reklamationsberechtigt“ sei. Er sei nicht nur Philosoph, sondern auch Schriftsteller, betonte Sloterdijk in Lech. Vor allem aber präsentierte er sich dort als „Denker auf der Bühne“ – wie er 1986 eine Abhandlung über Nietzsche genannt hat. Sicher: In einer Erregungskultur kann man so dauerhaft die Aufmerksamkeit auf sich ziehen – wenn auch auf Kosten von Tiefe und Konsequenz des eigenen Denkens: Assheuer schreibt, Sloterdijk schwebe eine „Arbeitsgemeinschaft aus echten Philosophen und einschlägigen Gentechnikern vor, die nicht länger moralische Fragen erörtern, sondern praktische Maßnahmen ergreifen“. Dem ist nicht so. Sloterdijk setzt nur ganz flüchtig den Weisen an die Stelle des göttlichen (Schaf-)Züchters. Kaum ist er erschienen, begräbt er ihn schon wieder im Staub der Archive. Statt einen Vorstoß in politische Verantwortlichkeit zu wagen – was ja moralische Fragen nicht ausschließen muss –, siegt letztlich der Ästhet: „Im Haus der Sprache eingeschlossen“ (Heidegger) schichtet er weiter Stein auf Stein. An Fenster zum Hereinlassen der Welt hat er gedacht, nur die Tür zum Heraustreten – die hat er vergessen. Man muss sich die Philosophie inmitten der Vorarlberger Luft als einen Fremdkörper vorstellen.