Ein konservatives Manifest

Der „FAZ“-Journalist Konrad Adam sucht nach der alten Mitte. Doch die entpuppt sich, genauso wie die modische neue Mitte, bei näherem Hinschauen als flüchtiger Gegenstand. Denn die Gesellschaft ist facettenreicher, als die Begriffe suggerieren  ■   Von Warnfried Dettling

Dieser Konservativismus will Schaden vermeiden. Aber man kann auch Schaden anrichten, wenn man nichts verändert

Die Essays von Konrad Adam in der FAZ versprechen immer eine anregende, manchmal auch ärgerliche Lektüre. Das lässt sich auch für sein neues Buch sagen. Es bringt eine temperamentvolle Abrechnung mit der Regierung Schröder, ist auf der mühsamen Suche nach der alten Mitte, und es liest sich wie ein konservatives Manifest: Adam gehört zur kleinen, aber feinen Schar derer, die der CDU raten, sich endlich als konservative Partei zu bekennen.

„Der Besitzstandswahrer wählt SPD“, schreibt Adam. Das mag er bei der Bundestagswahl getan haben. Inzwischen ist er wieder auf der Flucht. Die SPD bediene nur Interessen, lesen wir weiter, und ihre eigentliche Gefahr bestehe darin, ins Ideologische abzurutschen. Erfolg werde sie nur haben, wenn sie pragmatisch bleibe.

Nun kann es jedem Autor passieren, dass seine Thesen von den Zeitläuften überholt werden. Adam schreibt noch ganz unter dem Eindruck eines verlogenen Wahlkampfes, dessen Nachbeben jetzt, bei den Landtags- und Kommunalwahlen, die SPD erst einmal verschüttet haben. Dass aber selbst ein intelligenter Zeitgenosse wie er sich vorher ganz einfach nicht vorstellen konnte, womit dann im Juni die Regierung Land und Leute überrascht hat, das ist ein bemerkenswerter Sachverhalt.

Diskussionswürdig wären heute ganz andere Fragen: Woher kommt eigentlich so plötzlich der Spar- und Reformfuror der Regierung, der ohne Rücksicht auf Verluste mit dem Kopf durch die Wand will? Warum hat die SPD nach sechzehn Jahren Opposition nicht erst einmal ganz „pragmatisch“, wie Adam empfiehlt, den Wählern Zeit gegeben, sich an die neuen Gesichter zu gewöhnen? Wird die SPD auf mittlere Sicht als Regierungspartei verschwinden oder von einer Großen Koalition erlöst oder gar mit einem „eisernen“ Kanzler, der keine Interessen, sondern nur noch das „Gemeinwohl“ kennt, auf wundersame Weise wiederauferstehen? Das zweite Anliegen, das Konrad Adam am Herzen liegt: Warum die neue Mitte keine ist und wir die alte Mitte brauchen. Das Buch ist ein Plädoyer für die gesellschaftliche Normalität und für die Notwendigkeit, diese zum Maßstab der Politik zu nehmen. Doch wo liegt sie, die alte Mitte, und gegen wen wäre sie zu verteidigen? Je mehr man über sie liest, bei Adam und anderswo, umso mehr fällt auf, dass die alte mit der neuen Mitte wichtige Gemeinsamkeiten teilt: Beide lösen sich, wenn man sie begrifflich packen will, in ein politisches Nirwana auf, geistern gespenstisch durch die politischen Räume. Adam ruft dazu auf, „Mitte und Normalität zu verteidigen, die doch nur eine soziale Mitte und eine gesellschaftliche Normalität sein kann“, und er meint, das könne doch, für eine Volkspartei wie die CDU, nicht so schwer sein.

Vielleicht ist es nicht schwer, sondern schlicht unmöglich, und das aus Gründen, die man bei Adam ganz gut nachlesen kann. Wenn etwas in früheren Zeiten die alte Mitte und die gesellschaftliche Normalität ausgemacht hat, dann waren es die traditionelle Erwerbsarbeit und die bürgerliche Familie, und beide waren in der Industriegesellschaft aus engste miteinander verbunden. Doch mit „Arbeit! Arbeit! Arbeit!, dem Urschrei der Sozialdemokraten, lässt sich eben kein Staat machen, jedenfalls nicht auf Dauer“, schreibt Adam ganz richtig. Und die bürgerliche Familie mitsamt der dazugehörenden Rollenverteilung kann man zwar herbeiwünschen, wie Adam es tut, und man kann auch weiter, als lebten wir noch in den 70er-Jahren, gegen eine Politik zu Felde ziehen, „die sich der Emanzipation, verstanden als möglichst weitgefasste Bindungslosigkeit, verpflichtet fühlt“.

Man hat bei der Lektüre manchmal den Eindruck, als stünden politisch-ideologische Positionen, die sich sonst eher feindlich gegenüberstehen, vor ganz ähnlichen Problemen: mit dem sozialen Wandel analytisch angemessen umzugehen, die neue Wirklichkeit nicht einfach zu diffamieren, sondern zu gestalten.

Schließlich legt Adam ein konservatives Manifest vor, das sich nicht länger an den Begriffen „links“ und „rechts“ orientiert, sondern an den Kategorien „fortschrittlich“ und „konservativ“. Während niemand mehr so recht sagen könne, was links und rechts sei, könne man den Unterschied zwischen den Konservativen und den Fortschrittsgläubigen relativ klar markieren: Sie unterscheiden sich, so Adam, durch ein anderes Geschichtsbild. Auf der einen Seite komme „das dynamische Element in den Blick, die Sehnsucht nach dem neuen Menschen, der neugegründeten Gesellschaft und einer neugestalteten Natur ...“ Auf der anderen Seite rechnen die Konservativen „den Preis des Fortschritts vor und fragen sich, ob das Verhältnis noch stimmt“. Konservativ, das ist dann „die Kehrseitenempfindlichkeit, die es für dumm hält, für eine Sache zu bezahlen, was sie nicht wert ist“. Das ist gut gesagt und immer richtig. Das Problem ist nur, dass man das vorher nie so genau weiß – und dass Kosten auch anfallen, wenn man nichts tut. Der Konservativismus, den Konrad Adam und andere predigen, heißt nichts anderes als Schadensvermeidung. Wer sichergehen will, dass er keine negativen Nebenfolgen auslöst, der tut am besten gar nichts. Ein solcher Konservativismus macht politikunfähig, eine Attitüde, die dem temperamentvollen Adam freilich widerstrebt. Sein Festhalten an der bürgerlichen Familie, seine normative Verklärung der gesellschaftlichen Normalität, seine Kritik an der EU riskieren massive Nebenfolgen, und sie lassen recht wenig spüren von der konservativen Tugend der „Kehrseitenempfindlichkeit“.

Adams Positionen und Polemiken offenbaren noch einen anderen konservativen Widerspruch. Er beklagt den Verlust der Politik und meint, François Furet zitierend, dass es nach dem Ende des Kommunismus und in den Zeiten der Globalisierung keine Alternativen mehr gebe. Das klingt wie ein konservatives Sich-Abfinden mit dem Status quo, gegen den er aber, wenn er über Bildungs-, Sozial- oder Familienpolitik schreibt, massiv rebelliert. Eine Naheinstellung der Themen, Probleme und Missstände zeigt denn auch sehr rasch, dass die Spielräume der Politik nicht so sehr durch die Globalisierung, sondern mehr durch die Akteure selbst eingeengt werden.

Adams Kritik der SPD-Politik als populistisch ist von den Ereignissen der letzten Wochen schlicht überholt worden

Möglicherweise wäre ein Moratorium nicht schlecht: dass alle Beteiligten mal eine Weile von ihren ideologischen Höhen herunterkommen, nicht von links und rechts, progressiv und konservativ reden und über die alte wie die neue Mitte und all die anderen dritten Wege lieber schweigen. Politik und Debatte müssten deshalb nicht langweilig werden, im Gegenteil: Sie könnten Probleme verhandeln, Lösungen vorschlagen und gute Gründe dafür nennen.

Konrad Adam: „Staat machen. Warum die neue Mitte keine ist und wir die alte Mitte brauchen“, Siedler Verlag, Berlin 1999, 157 Seiten