Jahr 2000 und die Atomindustrie

Eine weltweite Kampagne fordert das Abschalten von Atomanlagen genau zur Jahrtausendwende, um Computerprobleme zu verhindern  ■   Aus Berlin Reiner Metzger

„Japan ist die erste Atom-Nation der Welt, die vom Jahr 2000 erreicht wird. Andere wie die USA warten einfach ab, was mit unseren Atomreaktoren passiert und welche Maßnahmen sie ergreifen müssen“, ärgert sich Yumi Kikuchi aus Tokio. „Über 50 Jahre nach Hiroshima könnten wir so wieder einmal die Versuchskaninchen für die Welt sein“, meinte gestern die Mitgründerin der World Atomic Safety Holiday Petition, kurz Y 2 K WASH genannt.

In Berlin fand gestern ein Symposium zum Datumswechsel am 1. Januar 2000 (englisch Year 2000, kurz Y 2 K) im Bereich der Atomindustrie statt. Von Computerexperten wird gewarnt, dass viele der eingebauten Chips in Maschinensteuerungen und Software in Computern bei dem Wechsel des Datums von 99 auf 00 aussteigen könnten. Dazu tagen heute Fachleute der Industrieländer G 8 in Berlin. Die hatten jedoch bis gestern mittag die Bereiche Atomwaffen und Atomanlagen nicht einmal auf der Tagesordnung.

Wie sich das Y 2 K-Problem auf Reaktoren auswirken wird, darüber gibt es die verschiedensten Studien – von „nicht relevant“ bis zur Heraufbeschwörung mehrerer Tschernobyls in den weltweit etwa 430 AKWs.

„Je nach Alter der AKWs arbeiten einhundert bis einige hundert Mikrochips in der gesamten Anlage“, sagt Gerhard Schmidt vom Bereich Reaktorsicherheit des Ökoinstituts Darmstadt. „Der größte Teil der Bauteile-Hersteller existiert nicht mehr. Und von den weiter bestehenden weigern sich viele, Informationen herauszugeben – aus Angst vor Regressansprüchen, wenn sie einen Jahr-2000-Fehler zugeben“, umreißt Schmidt das Problem auch im Atombereich. Ein vollständiger Jahr-2000-Check ist also schwierig. In den 19 deutschen AKWs sind die Tests laut Schmidt Ende des Monats abgeschlossen, nur 5 haben jedoch auch schon die entdeckten anfälligen Komponenten ausgetauscht.

Das Hauptproblem sehen die Experten aber nicht in den AKWs selbst, sondern im Zusammenbruch des über Länder hinweg verknüpften, heutzutage voll computerisierten Stromnetzes. Hier kann der Ausfall der Stromversorgung von ganzen Regionen nicht ausgeschlossen werden. Und AKWs sind von der äußeren Stromversorgung abhängig. Nur damit können die riesigen Kühlmittelpumpen betreiben werden, die das Schmelzen des Reaktorkerns verhindern.

Für den Fall, dass die Stromversorgung ausfällt, steht in jedem AKW mindestens ein Notstrom-Dieselmotor. Doch diese Aggregate arbeiten nur mit einer Zuverlässigkeit von etwa 80 Prozent – der Rest ist Hoffnung oder das Reserve-Notstromaggregat, je nach AKW.

Das französische Atomkommissariat hat die ihr unterstehenden Atomfabriken und -lager deshalb für die Jahrtausendwende stillgelegt, berichtete gestern Mycle Schneider vom World Information Service on Energy (WISE) in Paris. Die dem staatlichen Stromkonzern Electricité de France zugehörigen Reaktoren hingegen laufen weiter, weil EdF kein Problem mit Y 2 K sieht. Die Regierung hingegen habe ihren in der Ukraine lebenden Bürgern empfohlen, vom 20. Dezember bis zum 17. Januar Urlaub außer Landes zu machen – schließlich laufen dort so nette Anlagen wie Tschernobyl.

Laut den Internationalen Ärzten für die Verhütung des Atomkriegs (IPPNW) gibt es weder in Deutschland noch in den USA auch nur annähernde Vorsorge und einigermaßen funktionierende Katastrophenpläne für die Bevölkerung im Falle eines Störfalls. Rainer Stephan von den IPPNW in Schleswig-Holstein fordert, zumindest den Beschluss der Innenminister vom November 1997 umzusetzen, nämlich die flächendeckende Versorgung der Bevölkerung mit Jodtabletten, damit wenigstens die nach Tschernobyl am schlimmsten geschädigten menschlichen Schilddrüsen einigermaßen geschützt wären.

Die IPPNW, WASH und andere fordern deshalb, dass zumindest die kritischen Atomanlagen und AKW zur Jahrtausendwende weltweit vom Netz genommen werden. Das müsste dann aber bei den Reaktoren schon Wochen vorher geschehen – denn sie müssen noch mindestens eine bis zwei Wochen nach einem Stopp mit Hilfe der elektrisch betriebenen Pumpen weiter gekühlt werden.

Im Internet: Öko Institut http://home-t-online.de/home/g.schmidt.rs/homepage.htm , Ärzte www.ippnw.de , Greenpeace-Studie www.greenpeace.org