Der Osten wählt heute Schwarz. Morgen Rot?

■  Es wäre voreilig, die SPD abzuschreiben. In Ostdeutschland wird pragmatisch gewählt. Große Verschiebungen sind immer möglich

Politik ist das Bohren dicker Bretter, sagte Max Weber vor 80 Jahren in seinem berühmten Vortrag „Politik als Beruf“, und diese Erkenntnis gilt noch heute allgemein als richtig. Wer wüßte das besser als die Sozialdemokraten, die in ihrer langen Geschichte so manches dicke Brett bearbeitet haben, oft ohne Erfolg. In diesen Wochen muss die SPD in Ostdeutschland jedoch lernen, dass auch das Gegenteil richtig ist: Manche Bretter sind so dünn, dass man den Bohrer gar nicht mehr anzusetzen braucht. Die Politik kennt keine Geduld mehr.

Was ist vor einem Jahr nach der Bundestagswahl nicht alles geschrieben worden: Der Osten wird rot. Die SPD sei die neue Volkspartei, hieß es. Sie repräsentiere in Ostdeutschland das, was die Sozialdemokraten im Westen erst noch werden wollen: die Mitte. Die SPD im Osten sei in der komfortablen Situation, sich ihren Koalitionspartner aussuchen zu können: Entweder sie regiere mit der CDU oder mit der PDS. Die CDU drohte dazwischen zerrieben zu werden.

Und heute, nur zwölf Monate später? Wird der Osten schwarz. Tiefschwarz. Die CDU gewinnt die absolute Mehrheit in Thüringen und in Sachsen. Die Sozialdemokraten fahren die schlechtesten Ergebnisse in ihrer Geschichte ein. Die SPD und Volkspartei? Sie kann froh sein, wenn es noch zur Partei reicht, wird gespottet, mit Volkspartei ist es vorbei. Die SPD droht zwischen CDU und PDS zerrieben zu werden.

Spinnt der Osten mal wieder? Weiß er nicht, was er will? Gestern rot, heute schwarz? Und übermorgen dunkelrot? Oder stimmt die Analyse nicht? Wenn das so ist: Welche Analyse stimmt dann nicht? Die von September 1999 oder die von September 1998?

Der Osten weiß sehr wohl, was er will: Gestern wollte er Rot, heute will er Schwarz, und wenn es sein muss, will er morgen etwas ganz anderes. Die Ostdeutschen wählen pragmatisch – und Personen. Die festen, biografischen Bindungen an eine bestimmte Partei oder ein Milieu gibt es im Osten so gut wie gar nicht; eine Ausnahme ist die PDS. Sie ist die einzige Partei, die kaum strukturelle Probleme hat, sieht man von ihrer Überalterung einmal ab. Sie hat mit 91.000 nicht nur die höchste Zahl der Mitglieder (CDU: knapp 60.000, SPD: knapp 30.000), sondern auch eine Mitgliedschaft, die noch stolz darauf ist, ein funktionierendes Parteileben zu haben.

SPD und CDU, viel stärker aber noch FDP und Grüne, sind im Osten keine Parteien im klassischen Sinne mehr. Ihre Ergebnisse sind viel stärker als im Westen von aktuellen Stimmungen abhängig. Mit anderen Worten: Der Ostler ist ein Wechselwähler. Mobil, spontan, er entscheidet abhängig von seiner subjektiven Befindlichkeit. Dadurch sind bei Wahlen jederzeit größere Verschiebungen möglich.

Schröders SPD hat im September 1998 in Ostdeutschland vor allem mit seiner Person und dem Versprechen gewonnen, für mehr soziale Gerechtigkeit zu sorgen. Im September 1999 verliert er aus denselben Gründen. Von Schröder sind mittlerweile viele enttäuscht, und die SPD hat ihr Versprechen nicht gehalten, heißt es. Die Partei wird dafür bestraft, ganz einfach. Für die Christdemokraten in Thüringen und Sachsen sprachen vor allem die angesehen Landesväter Bernhard Vogel und Kurt Biedenkopf. Sie bedienen die ostdeutsche Sehnsucht nach dem freundlichen Patriarchen, den es in der DDR nie gab. Die PDS hingegen profitiert davon, dass sie den ostdeutschen Wertekonsens gegenwärtig stärker repräsentiert als die SPD. Dieser Wertekonsens ist ein „sozialdemokratischer“: An erster Stelle stehen Werte wie Gerechtigkeit, soziale Gleichheit und Gemeinschaftlichkeit. Warum beispielweise wurde in Sachsen nicht mehr SPD gewählt? 54 Prozent der Befragten gaben an, die Partei trete nicht mehr für soziale Gerechtigkeit ein. Laut Umfragen traut ein Teil der Wähler der PDS mittlerweile eher zu als der SPD, sozialdemokratische Ziele umzusetzen.

Dieser Befund gilt für den Herbst 1999. In ein, zwei Jahren kann das, je nach Stimmungslage gegenüber Schröder und der SPD, schon wieder anders aussehen. (In Mecklenburg-Vorpommern oder Sachsen-Anhalt sieht es, nebenbei bemerkt, jetzt schon anders aus.) So übereilt es vor einem Jahr war, den Osten auf ewig zur roten Zone zu erklären, so vorschnell ist es jetzt, die SPD abzuschreiben. Die CDU hatte unter Helmut Kohl ja auch schon mal gelernt, dass im Osten nicht immer dicke Bretter gebohrt werden. Jens König