Goldige Erscheinung nach nur fünf Wochen Rennpraxis

■ Nach seinem souveränen Gesamtsieg bei der Vuelta ist Jan Ullrich nun auch WM-Favorit – und fühlt sich so wohl wie nie, denn niemand in Spanien wollte etwas über Doping wissen

Pamplona (taz) – Den gestrigen Etappensieg holte sich in Madrid zum Abschluss der Vuelta der Belgier Jeroen Blijlevens im Spurt des geschlossenen Hauptfeldes. Den Sieg in der Gesamtwertung rollte Jan Ullrich da nur noch gemütlich nach Hause. Schon am Samstag, nach dem Zeitfahren in Ávila, konnte er befreit strahlen, als er das vom spanischen Telekom-Konkurrenten Telefónica gesponsorte Siegertrikot über den Kopf streifte. Als dritter Deutscher nach Rudi Altig (1962) und Rolf Wolfshohl (1965) hatte er den Sieg bei der Spanien-Rundfahrt eingefahren und zum ersten Mal bei der Vuelta schien es für Ullrich am Ende der Etappe keine lästige Pflichtübung zu sein, den Pokal in die Höhe zu stemmen. Das Verletzungspech ist vergessen, der dicke Bauch wird erst nach der Weltmeisterschaft im Oktober in Verona, zu der er jetzt wenigstens im Zeitfahren als großer Favorit fährt, wieder Schlagzeilen machen, und die Dopingvorwürfe des Spiegel liegen plötzlich in weiter Vergangenheit.

Mit einer Demonstration seiner Überlegenheit hatte Ullrich beim Zeitfahren über 46,5 Kilometer die Konkurrenz deklassiert. Der Zweitplatzierte Alex Zülle, auch ein Spezialist gegen die Uhr, hatte einen Rückstand von 2:50 Minuten. Igor Gónzalez de Galdeano, Zweiter in der Gesamtwertung, konnte sich mit einem Rückstand von 31 Sekunden vor dem Zeitfahren noch Hoffnungen machen. Im Ziel in Ávila trennten ihn 4:15 Minuten von der höchsten Stufe des Treppchens.

González de Galdeano, die Vuelta-Überraschung, war selbst überrascht: „Ich habe Ullrich vor anderthalb Monaten bei der Kastilien-Rundfahrt in schlechter Form gesehen. Ich bin beeindruckt, wie schnell er fit geworden ist.“ Noch vor dem Vuelta-Start hatte es auch Ullrich persönlich für unmöglich gehalten, nach nur fünf Wochen Rennpraxis ganz vorne mitzufahren. Hinterfragen wird die wundersame Erscheinung in Gold niemand. Beim Team Telekom braucht man dringend positive Schlagzeilen, und in Spanien macht sich traditionell niemand Gedanken darüber, auf welchem Weg die Leistungen der Radprofis zustande kommen. Medizinische Hilfe auch jenseits des Erlaubten wird von den meisten sportlichen Direktoren der spanischen Mannschaften implizit eingestanden.

Während in Frankreich Enthaltsamkeit in Sachen Doping gepredigt wird, behauptet man in Spanien, die Vorwürfe der Franzosen gegen ausländische Fahrer sollten nur die schlechten Leistungen der eigenen Fahrer verschleiern. Bei der Vuelta wurde die Rückkehr von Jan Ullrich uneingeschränkt gefeiert, obwohl er sich gegen die versammelten Publikumslieblinge der 'spanischen Armada‘ durchgesetzt hatte.

Mit seinem zweiten Etappensieg brachte der Ullrich auch Gerüchte über angebliche Geheimabsprachen zwischen Telekom und anderen Teams zum Verstummen. Die junge und in letzter Minute zusammengewürfelte Telekom-Mannschaft war mit der Verteidigung des Goldenen Trikots hoffnungslos überfordert. Doch just als die Spanier den von seinen Helfern alleingelassenen Ullrich angreifen wollten, kam vom für Cofidis startenden Belgier Vandenbroucke (VDB) unerwartete Unterstützung. Dieser konnte am Ende mit Massimiliano Lelli zwar nur noch auf einen einzigen Helfer zählen. Der Italiener hielt auf der letzten Bergetappe das Tempo allerdings so hoch, dass keiner der Spanier noch Kräfte für den Großangriff auf Ullrich hatte. Diese Tempoarbeit wäre eigentlich Telekom zugekommen. Aber VDB wollte die Etappe und ließ niemanden davonfahren. „Das war für mich eine wichtige Vorbereitung für die WM“, erklärte der Belgier, der im Frühjahr auch einen Dopingskandal zu überstehen hatte, und der die Saison ebenfalls verdächtig stark abschließt.

Joachim Quandt