Harte Zeiten

Von der Lebenskunst der Armen  ■   Von Gabriele Goettle

„Drogenalarm! – Schon Zehnjährige süchtig!“, meldet eine Zeitungsschürze am Kiosk. Unter den Alleebäumen der Schloßstraße sitzen an diesem heißen Nachmittag kaum Spaziergänger. Zwei junge Mütter spielen mit ihren Kindern, ein Rentner führt seinen Hund aus, und der Neger, den man dort meist trifft, kommt federnd und summend des Weges, schwarz wie das Wolltuch, in dem er seine Rastazöpfe schultert. An der Bushaltestelle Ecke Seelingstraße sitzt ein kleiner türkischer Junge vor fünf Paar Damenschuhen Größe 38, die er für fünf Mark das Paar zum Kauf anbietet. „Von meiner Mutter, sie passen ihr nicht mehr“, sagt er, als sei sie herausgewachsen wie er aus seinen. Vor dem Eckhaus liegt der ganze kleine Hausrat eines verstorbenen alten Mannes auf der Straße. Türken und Deutsche durchwühlen gemeinsam alte Plastiksäcke und Kartons nach Brauchbarem. Die Stimmung ist heiter, man zeigt sich gegenseitig die Kuriositäten, wie lange Unterhosen und ledernes Bruchband. Und bald finden Nachttischlampe, Toaster, geflochtener Wäschekorb und Dampfbügeleisen einen neuen Unterschlupf in einem anderen Haushalt. Über all dem liegt jenes goldgelbe Nachmittagslicht, wie es aus unerforschlichen Gründen in der Umgebung von Schlössern und Parkanlagen zu finden ist. Es wandert auch durch all die leeren Läden und Geschäftslokale, die man hier wegen der unmäßig gestiegenen Mieten unentwegt antrifft, und über die frisch verputzten Gründerzeitfassaden hin.

In der Wohnungslosentagesstätte, einige Häuser weiter, sitzen die Besucher plaudernd beim Tee und versuchen von den Katastrophen abzulenken, die sich über ihnen zusammenbrauen. Ella, die graugelockte Ostberlinerin mit dem freundlichen Hund, trägt einen blütenweißen Verband um den Finger. Sie ist gebissen worden. Von einem Igel. Auch war eine Besichtigungskommission in ihrer Wohnung wegen angeblicher „Vermüllung und Tiergeruch“. Nun droht Kündigung, der sie aber durch eine Kündigung ihrerseits zuvorkommen will: „Ich stelle mir vor, was Billiges in Kreuzberg, ein großes Berliner Zimmer für mich und die Tiere, mit Küche und Bad. Mehr brauche ich nicht. Früher, da brauchte ich mehr Wohnraum, wegen Sammelwut und Kaufrausch. Aber das ist nun besser geworden. Na ja, ein bisschen ...“ Auch dem Mann, der den Spitznamen „Asienreisender“ trägt, weil er vor langer Zeit im Preisausschreiben eine Asienreise gewann, droht die Kündigung seiner Wohnung. Er hat im Laufe der Jahre Berge von Zeitungen und Zeitschriften gestapelt, die bis zu einem nahen Termin hinausgeräumt werden müssen. Nun liest er mit sich steigerndem Interesse täglich ein Stapelchen durch, denn ohne es zu lesen, kann er es nicht wegwerfen. Es könnten ja hoch interessante Texte verloren gehen, was sich tagtäglich beim Lesen bestätigt. Es gibt Zeitungen aus den 70er-Jahren, da weiß er sogar noch, weshalb er sie aufgehoben hat. Heute sitzt er hier und liest den Spiegel: „Was Aktuelles zwischendurch muss auch mal sein.“ Auch der Antiquar liest und ruft plötzlich erfreut aus: „Die Löffler wird entlassen, sie fliegt!“, aber keinen interessiert es. Großes Interesse hingegen erregt Bollwebers Auftritt. Auf seinem Nasenrücken klebt ein blutverschmiertes Pflaster. Über der geschwollenen rechten Augenbraue prangt eine frisch vernähte Platzwunde. Gebeugt und melancholisch blickend, lässt er sich am runden Tisch nieder. Der Antiquar fragt mit fast echter Teilnahme: „Bist du vom Rad gestürzt, oder hat dich jemand geschlagen?“, er holt sogar eine frische Tasse von der Theke, schenkt Tee ein und schiebt sie Bollweber fürsorglich hin. Der dankt mit einer kleinen müden Geste und sagt: „So ist mein Leben.“ Mit seiner schönen großen Hand, die übrigens in Mitleidenschaft gezogen ist, deutet er auf die Wunde: „Das ist meine Schlagzeile für heute. Hier steht es, dass ich es allen gesagt habe, dass er ein Faschist ist!“ „Wer denn?“, fragt der Antiquar ungeduldig, und Bollweber antwortet gereizt: „Ha ja, der Hermann Kant natürlich, der Hermann Kant ist ein Faschist!“ Roswitha, die ebenfalls Ostdeutsche ist und seit der Beendigung ihrer ABM-Stelle als Gärtnerin unter Depressionen leidet, unterbricht ihr brütendes Schweigen und fragt: „Kant? Das war doch einer von uns drüben. Was war der noch?“ Bollweber gibt in väterlich gütigem Ton Auskunft: „Hermann Kant war der Präsident vom Schriftstellerverband der DDR.“ Roswitha murmelt ein „Aha“ und wendet sich wieder ihrem Tee zu. „Warum ist Kant ein Faschist?“, fragt der Antquar vorsichtig, denn er sieht, dass es unter Bollwebers Ruhe brodelt. „Warum?“, fragt Bollwebers scharf, „er hat Existenzen zerstört, aus Opportunismus und Machtgeilheit. Der Mann gehört vor Gericht, läuft aber frei herum, deshalb muss man alle darauf aufmerksam machen, dass er ein Faschist ist ... Aufgewacht bin ich dann im Krankenhaus auf einer Bahre. Sie hatten mich gerade frisch genäht, mir war noch etwas flau im Magen, aber ich durfte bereits gehen. Das wars. Fertig, kein Wort wird mehr darüber verloren!“

Jemand brüllt „Essen fertig!“, und schnell bildet sich eine Schlange vor der Theke, in die sich flink der Antiquar einreiht. Er bringt für sich und Bollweber einen dampfenden Suppenteller. Der nimmt ihn dankend entgegen, sagt „Probesitzen bei Erbsensuppe“ und beginnt seinen Tascheninhalt auf die Tischmitte zu verteieln. Vor seinen Teller platziert er eine Eieruhr mit dem Aussehen eines Käsehamburgers, ruft „Guten Appetit“, zieht ihn auf, schraubt ihn auseinander und fügt, beide Hälften nebeneinander legend, hinzu: „Es stimuliert mich, wenn ich die Unruhe hin- und hersausen sehe – wenigstens da drinnen, da lebt noch was!“

Bollweber löffelt ein wenig Suppe, erhebt sich dann plötzlich, geht um den Tisch herum und befestigt am Antiquar und an mir eine Wäscheklammer. „Als Dank und kleine Anerkennung“, sagt er und verbeugt sich formvollendet. Dabei gleitet die weiße Serviette ein wenig zur Seite, die er sich in den Hosenbund geklemmt hat. Ein Riss in seiner Hose wird sichtbar, durch den, für einen Augenblick deutlich erkennbar, Geschlechtsteile lugen. Der Antiquar, hocherfreut über den skandalösen Anblick, macht ihn kichernd darauf aufmerksam und empfiehlt: „Du weißt, dass sie im ,Warmen Otto‘ Nähzeug verleihen?“ Bollweber entschuldigt sich leicht verlegen und versucht, das Provisorium mit einer Sicherheitsnadel zu befestigen. Dann setzt er sich wieder und löffelt zierlich weiter, den Teller zur Tischmitte hin schräg haltend. Seine neueste Leidenschaft scheint die paarweise Verwendung der Dinge zu sein. Er trägt zwei Krawatten nebeneinander, zwei dünne schwarze Jacketts, zwei Wäscheklammern am Revers. Sie sind aus Holz und mit Name, Adresse und Telefonnummer beschrieben. „Meine Visitenkarten“, erklärt er, „die klemm ich den Leuten an die Jacke. Als Armer muss man sparen. Es ist ja keine Kunst, mit hohen Bezügen oder einem Abgeordnetengehalt Geschmack und Lebensart zu haben. Aber mit verschwindend geringen Mitteln, das will gelernt sein! Ich stelle ja keine Ansprüche, ich weiß, was sich gehört. Bei mir gibts alles in Sparform“, er zeigt auf seinen Schoß, „hier, meine Sparhose, draußen steht mein Sparfahrrad – mit meinen eigenen Wadenmuskeln spar ich ihnen eine Monatskarte ein –, meine Schallplatten laufen auf Spartaste, seit ich keinen Plattenspieler mehr habe. Habe auch keinen Herd, keinen Kühlschrank, keinen Fernseher, das hat man mir amtlicherseits immer noch nicht zugesprochen, obwohl es sich um Menschenrecht handelt, das nicht mal der Gerichtsvollzieher entfernen darf. Ich habe mir jetzt eine Kochplatte zugelegt, damit ich wenigstens mal was warm machen kann.“ Er holt drei stark ramponierte, adressierte, unfrankierte Kuverts aus der Jackentasche: „Das sind Klageschriften ans Amtsgericht, ans Oberverwaltungsgericht und an den Europäischen Gerichtshof in Den Haag, ich lass mir doch mein Recht nicht beugen! Ha ja! Am besten, ich ziehe so lange ins Adlon, wie ich höre, wird man dort umsichtig betreut. Ich brauche ja nur Übernachtung mit Frühstück. Mittag hätte ich ja hier, und abends zu essen, ist ungesund. Ich muss abnehmen.“ „Ach“, ruft der Antiquar bei diesem Stichwort, „hast du schon gehört? Beten macht schlank! Das behaupten die Zeugen Jehovas. Die Griechin aus Spandau hat eine Bibel mit Goldschnitt und Ledereinband gekauft, für 25 Mark. Angeblich hat es schon gewirkt.“ Der Asienreisende blickt von seiner Lektüre auf und sagt kategorisch: „Das kann nicht sein!“ Bollweber winkt ab: „Nichts für mich, ich spare lieber, ernähre mich gesund und höre dreimal am Tag Radio, das bildet. Grade habe ich übrigens hier mit meiner Einmal-Unterwasserkamera, Sparmodell, eine halbtote Ratte fotografiert. Vorne an der Straßenecke. Sie sitzt ganz ruhig da und wartet, bis sich die volle Wirkung des Giftes entfaltet in ihrem Körper. Ganz nah, ganz niedlich wartet sie.“ Bollweber legt die Kamera auf den Tisch, holt vorsichtig zwei Zigarren aus ihren Hülsen, rollt sie zwischen den Fingern, beschneidet und beleckt sie, zündet sie genüsslich an. Eine nach der anderen. Zurückgelehnt zieht und pafft er, mal rechts, mal links, und scheint sich wieder gefangen zu haben. Da tritt sein Liebligsfeind an den Tisch. Peter, vom Antiquar „Stalin“ genannt. Er räuspert sich, streicht den Bart zurecht und fragt im Gewerkschafterton: „Darf ich mal kurz stören, ich hätte da einige Papiere ...“ Er reicht mir ein Büschel Computerausdrucke. „Jetzt nicht! Ich bin noch nicht fertig, ein bisschen später“, brüskiert ihn Bollweber und bläst dem passionierten Nichtraucher eine kleine Rauchwolke unter die Nase. „Muss das sein, der Gestank?!“, ruft Peter empört aus und geht protestierend zurück in den Computerraum. Bollweber rollt die Zigarren neben seinem Ohr, lauscht und brummt: „Prolet! Wenn hier was stinkt, dann bin ich das, aber nicht meine Zigarren. Das ist eine Havanna hier, und diese ist eine Brasil!“ Der Asienreisende blickt kurz auf und bemerkt: „Nobel geht die Welt zu Grunde.“ Der Antiquar sprudelt hervor: „Wisst ihr, dass in Kuba bei der Arbeit vorgelesen wird? Ja, das ist wahr, in den Zigarrenfabriken wird den Arbeitern die ganze Weltliteratur vorgelesen. Sie hören zu, rollen die Zigarren und werden gleichzeitig gebildet.“ Bollweber zieht an seiner Havanna, bläst eine gewaltige Rauchwolke zur Decke und sinniert: „Das hätten sie bei uns auch einführen sollen, dann wäre doch jeder gleich viel lieber zur Arbeit gegangen, also ich wenigstens.“ Der Asienreisende klappt seine Lektüre zusammen und sagt zum Abschied anerkennend: „So lange man sich noch solche Zigarren leisten kann, muss man die Hoffnung nicht ganz aufgeben ...“ Bollweber winkt mit der Linken ab, legt die Brasil in den Aschenbecher und ruft dem Hinausgehenden nach: „Simpel, ich kann sie mir nicht leisten, leider! Der denkt wohl, ich bin der Krösus?! Bei mir läuft schon das neue Sparmodell der SPD. Ich reduziere meine Ansprüche freiwillig. Durch Lebenskunst. Meine Wohnungseinrichtung, als Beispiel, die finde ich auf der Straße. Einmal durch die Stadt gefahren, schon bin ich eingerichtet – und zwar geschmackvoll. Ästhetik muss sein! Den Teppich, den ich euch neulich gezeigt habe am Bergheimer Platz, den hab ich dort an der Ecke aus einem Container gezogen. Ein großer, handgeknüpfter Wollteppich in schönen, warmen Farben und kaum verschmutzt. In der Parkanlage habe ich ihn ausgebreitet und geklopft, da war er wie neu. Jetzt liegt er bei mir auf dem Holzboden. Und gestern stand da so ein kleines Regal am Straßenrand. Im ,Warmen Otto‘ gab es ein Stück Kernseife, damit lässt sichs gut sauber machen, wenn es mal nötig wird. So lange lege ich sie in mein Museum für Fluxus. Hauptsache, man hat alles zur Hand. Und dann habe ich neulich eine Lampe gefunden, eine Zuglampe, in sehr gutem Zustand. Birne rein, anschließen, und schon war das beste Arbeitslicht in meinem Studio. Ha ja, man is ja nicht nur beim Außendreh, man ist ja auch mal zu Hause ...“ „Aber die Zigarren, die hast du doch nicht gefunden, oder?“, fragt der Antiquar. Bollweber reibt mit dem Zeigefinger vorsichtig an der frischen Wunde und stellt klar: „Die sind vom Empfang des Botschafters, und ein gutes Fläschchen Roten gabs auch noch dazu ...“

Peter alias Stalin tritt wieder auf den Plan. Bollweber pafft schweigend und mit zur Decke gerichteten Augen den Rauch in die Luft. „So“, erdröhnt Peters Bass, „jetzt darf ich vielleicht auch mal was sagen: Seit die britische Eisenbahn vor zwei Jahren privatisiert wurde, ist sie in einem vollkommen heruntergekommenen Zustand, sie ist dreckig, überfüllt und unpünktlich ...“ „So?“, sagt Bollweber gedehnt, „das trifft uns hier natürlich besonders hart.“ Peters Augen funkeln kampfeslustig unter den buschigen Brauen: „Das ist wieder mal typisch, so eine Antwort zu hören! Ich denke, wir sind jetzt in Europa, und diese ganzen Sachen gehen uns alle an? Du und du und du, ihr seid alle Europäer! Aber es ist hier wie überall, dass also die Solidarität entweder sowieso fehlt oder an den Grenzen aufhört. Und dazu muss man wissen, dass die privatisierte britische Eisenbahn weiterhin Zuschüsse vom Staat kassiert. Aber der kleine Pendler, der noch Arbeit hat, muss morgens stehen, während die Aktien steigen.“ „Soll er doch besser Aktien kaufen und im Bett liegen bleiben!“, ruft kichernd der gemeine Antiquar, während Bollweber mit freundlichem Gesicht und vorgebeugtem Oberkörper übertrieben höflich Interesse heuchelt.

Peter übersieht und überhört die bekannten Reaktionen und fährt unerschütterlich fort: „In der Financial Times stehen Fakten, von denen man also hierzulande kaum was hört. Ich habe hier ein paar Texte von mir, da ist was zum Thema Frankenstein-Food und über Lohndumping und Menschenrechte ... oder hier, über das Urteil von Karlsruhe, wo also beschlossen wurde, dass es rechtens ist, diesen ABM-Beschäftigten nur 80 Prozent des Tariflohnes zu zahlen – oft sind es ja nur 60 Prozent oder noch weniger. Und das wird ja immer schlimmer, die Bundesanstalt für Arbeit vermittelt jetzt schon Maurerstellen an ganz normale Arbeitslose für 13 Mark Stundenlohn, hör ich. Tariflohn ist 24 Mark, der Mindestlohn liegt bei 15 Mark. Es wird also jemand von dieser Behörde zur Arbeit gezwungen, und zwar zu einem Lohn, der 2 Mark unter dem Mindestlohn liegt! Wer diese Arbeit nicht aufnimmt, bekommt eine Sperrfrist und kein Geld. Es wird Zeit für eine Umbenennung in Arbeitgeberamt. Niemand fragt, wie man von 13 Mark Stundenlohn die Miete zahlen soll und was da später für eine Rente herauskommt. Dagegen muss sich doch mal ein Widerstand mobilisieren lassen!“ Peter sieht aus, als wäre er auf der Stelle bereit, ein Transparent zu nehmen und vor den Reichstag zu ziehen. Er ist das in der Suppenküche herumspukende Gespenst der verstorbenen Linken, das keine Ruhe findet und auf ewig dazu verdammt ist, Geist zu bleiben. Ein autodidaktischer Geist, vier Sprachen sprechend und hoch begabt, wie viele hier.

Bollweber reicht ein Fläschchen mit Eau de Cologne herum zur Erfrischung. Der Antiquar befeuchtet sich Stirn, Ohrläppchen und Pulse, Peter weist das Angebot entschieden zurück und erzählt in etwas gedämpftem Tonfall: „Ich bin ja nun seit Montag in dieser Maßnahme – oder in diesem Kurs, kann man wohl sagen –, den mir das Arbeitsamt verpasst hat. Wir haben am ersten Tag gebastelt, also Brücken gebaut aus Pappe. Eine Art Zeitvertreib, dann haben sie auch noch Verschiedenes getestet, also wie man mit Zahlen umgehn kann und dergleichen. Da sind also die unterschiedlichsten Leute zusammengefasst, mit mehr oder mit weniger Bildung. Einer, der ist in meinem Alter, ist seit zig Jahren arbeitslos, hat Familie und 80.000 Mark Schulden. Andere sind Metzger, Bäcker, einer ist Gartenarbeiter, na, und alle sind sie seit fünf und mehr Jahren arbeitslos, also nicht nur Leute – wies immer gesagt wird – mit schlechter Qualifikation. Nur einer ist dabei, der war Sonderschüler und kommt schlecht mit, die anderen sind ganz helle. Alles gut und schön, so eine Maßnahme, nur, das ist ein Privatunternehmen, das für unheimlich teures Geld diese Kurse veranstaltet. Ich halte das für einen vollkommenen Unsinn.

Kein Wunder, dass kein Geld da ist, wenn es von der Administration aus dem Fenster geschmissen wird. Es gibt ja, registriert beim Arbeitsamt, genug arbeitslose Pädagogen, Akademiker, oder besser noch, erfahrene Handwerker, die also bestimmt Freude daran hätten, ihre Kenntnisse weiterzugeben. Davon bin ich überzeugt. Warum lässt man diese Leute keine Kurse machen und legt ihnen vielleicht noch ein bisschen was rauf auf ihre Stütze? Das käme den Steuerzahler um vieles billiger, und außerdem könnten diese Leute viel besser auf die Belange der Kursbesucher eingehen. Denn so, wie die es hier machen, bringt es nicht viel. So wird sich nie was ändern am bildungsmäßigen und sozialen Elend der Unterschichten. Die Leute brauchen eine ganz gezielte Förderung, also die sind ja nicht dumm, im Gegenteil, das sind teilweise ganz kreative Leute, aber eben mit diesem Handikap. Leute, die so lange raus sind aus allem, die können sich nicht mehr so gut konzentrieren – bei mir ist das was anderes, ich geh also immer und lese die ausländische Presse in der Bibliothek durch, mach mir Notizen, das trainiert das Gedächtnis – aber wer durchhängt ... Der Unterricht geht von acht Uhr früh bis viertel vier. In der Mittagspause können wir raus, es wird aber genau darauf geachtet, dass auch alle nach der Pause wieder zurückkommen. Kantine gibt es auch, die ist aber viel zu teuer. Jeder bringt also Kaffee und Stullen selber mit. Ja, es ist schon eine Abwechslung, sicher, aber im Grunde läuft alles darauf hinaus, uns zu beschäftigen, also wenn ich die Verschönerung der Statistik mal außer Acht lasse. Mehr ist es nicht. Trotzdem, man muss ja froh sein über jede Kleinigkeit, die noch nicht gestrichen worden ist. Ein bisschen was Neues kann jeder für sich lernen, wenn er das will, seis auch nur am Computer. Aber wirklich anfangen kann niemand hinterher was mit dem Gelernten. Es ist zu wenig und also für ein eventuelles Berufsleben sowieso. Aber das ist überhaupt so ein Problem, finde ich, ich hab mich das schon so oft gefragt, es ist also so, dass ich lerne und lerne, ich habe nun die ganzen Sprachen gelernt, ich lese Bücher, Zeitungen, Zeitschriften, ich sammle Kenntnisse. Alles in Kopfarbeit. Nur, wenn ich dann wo hin komme, dann muss ich also sagen, tut mir leid, ich habe nichts weiter gelernt, ich kann nicht mauern, ich kann nicht tischlern, hab keine Ahnung von Metallverarbeitung oder „elektrischen Leitungen, ich kann grade mal ein bisschen in der Botanik arbeiten und Auskunft geben. Na, das reicht doch nicht hinten und nicht vorne. Dabei dachte ich, wir werden uns in den nachindustriellen Zeiten mal endlich bilden, wir Arbeiter, so sollte es doch sein, also ich habe das so aufgefasst! So, jetzt muss ich noch was aufschreiben gehn.“ Er erhebt sich und enteilt in den Computerraum.

„Recht hat er ja ...“, sagt der Antiquar, der immer mitgerissen ist, wenn etwas mit Leidenschaft vorgetragen wird, aber Bollweber zerbröselt seine Zigarrenreste im Aschenbecher und scheint mit den Gedanken ganz woanders zu sein. „Ich muss die Probleme nicht in der Zeitung suchen“, sagt er bedächtig, „ich hab sie immer bei mir ... Und ich hab sie zu Hause. Aber das ist was anderes, mit meiner Lady. Bei mir ist ja eine Dame zu Besuch aus der Nachbarschaft. Ilse, sie ist sechsundsiebzig und die Tür ist ihr zugefallen, der Schlüssel steckte innen. Das war vor drei Wochen. Ich habe ihr Schuhe besorgt, die Frau hatte kaputte Schuhe an, Korkschuhe. Ich habe ihr gute, lederne gegeben. Einen Feuerlöscher habe ich auch besorgt, sie ist leider Kettenraucherin und lebt vollkommen ungesund. Gestern Nacht, als ich heimkam, hab ich ihr erst mal ein Gemüsesüppchen gemacht und einen Himbeergeist habe ich ihr eingedeckt, für ihre Bronchien.“ Der Antiquar hat vom Tresen ein paar halb vertrocknete Kuchenstücke organisiert. Bollweber führt sie zerstreut zum Mund und erzählt zwischen den Bissen weiter: „Ich natürlich, als Gentleman, schlafe seit drei Wochen im Sessel, voll bekleidet. Das macht mir nicht das Geringste aus. Ja, glaubt ihr denn, ich lege mich zu der Frau ins Bett?!“ Der Antiquar missversteht: „Wieso, sie sieht doch gut aus, wie die alte Marlene Dietrich. Eine Gehhilfe hat sie ...“ „Ja und?“, ruft Bollweber aus, „die braucht sie auch, ihre Krücke. Ich lass sie in Ruhe, weil sei auch mal Ruhe braucht. Ha, ja! Bei Monsieur Roland haben die Frauen ihre Ruhe, wenn sies gern möchten. Ha, aber ich habe keine Ruhe, kaum ist es still, hör ich, wie sie hustet. Dann sagt sie, sei hat kalte Füße, ich soll ins Bett kommen und sie ihr wärmen. Dauernd friert sie. Ich sage, na gut, Madame, ich kann zu ihnen ins Bett kommen und ihre Himbeeren küssen, passend zum Schnaps ...“ Der Antiquar kichert glucksend und wartet lüstern auf die Fortsetzung der Geschichte. „Dann wieder hat sie furchtbaren Durst und gleich muss sie eine rauchen, braucht Feuer ...“ fährt Bollweber fort. „Na und, hast du nun?“ , fragt der Antiquar gequält. Bollweber übergeht die Frage kühl: „Es gefällt ihr bei mir, ich bin der einzige im Haus, der sich um sie kümmert, ha, ja! Bei Bollweber gibts den First-Class-Service. Aber die Lady ist von einer verstockten Bescheidenheit, sie regt sich auf, das muss doch nicht sein, kauf dies nicht, kauf jenes nicht, danke, das brauche ich nicht ... Aber da habe ich sie erst mal aufgeklärt, bei mir herrscht Savoir-vivre, bei mir gibts Tischkultur, bei Bollweber gibts zum Soufflé Kerzen und nen guten Roten. Den Salat avant, nicht après. ha, ja! Das ist doch aus meiner Tasche bezahlt, aber sie jammert immer, das gute Geld, die ganze Verschwendung! Nur, wenn ich weiter so nett bin zu ihr, dann fühlt sie sich noch wohler bei mir und wird nie mehr nach Hause gehen. Ha ja, aber was soll ich denn machen, ich bin doch kein Unmensch. Jedenfalls ist vom Schlüsseldienst keine Rede mehr, erst sollte er ja am Monatsende, wenns Geld gibt, geholt werden ... Ich hab mal vorsichtig angefragt vor einer Woche, aber sie sagte nur: Schlüssel brauch ich nicht, zu Hause kriege ich nur wieder Depressionen und will aus dem Fenster! Ich habs dann gelassen, das kann man ja nicht verantworten, aber sie muss nun allmählich schon mal was dazusteuern zum Haushalt. Eine Ameise wäre jetzt eigentlich fällig, nach drei Wochen in Kost und Logis, findet ihr nicht auch?“ Der Antiquar, der ein akribisch sparsamer Mensch ist und außer für Bücher so gut wie kein Geld zum Fenster hinauswirft, wiegt bedächtig den Kopf und sieht sich schon selbst in der geschilderten Lage. „Ach was!“, ruft Bollweber mit fröhlichem Leichtsinn aus, „was solls, ich nehm die fünf Mark, die sie mir heute vielleicht gibt, lege mich auch die nächsten drei Wochen nicht ins Bett. Ich bin ein Nachtwächter, ein Niemand, ein nichtswürdiges Subjekt, was soll ich machen, und sie ist eine alte Lady, auf die man Rücksicht nehmen muss, sie kann ohne Krücke nicht gehen, hats auf der Lunge und will nichts essen. Ha ja! Das kenne ich doch, als ich meinen Vater damals gepflegt habe bis zu seinem Tod, da standen manchmal drei volle Teller im Kühlschrank, es war nichts zu machen. Hauptsache, die Lady steckt mir die Wohnung nicht in Brand mit dem Rauchen. So, jetzt hab ich noch ne Recherche zu machen. Ade.“ Er erhebt sich, blickt prüfend auf den Sitz der Serviette hinab, bringt das Geschirr zum Teewagen, besteigt sein Fahrrad und fährt davon. Hinten auf dem Gepäckträger ist ein großes Büschel Lindenzweige vertäut.

Der Antiquar blickt mich schweigend an, mit jenem melancholischen Lächeln um die Augen, das er immer dann aufsetzt, wenn den Ereignissen nichts mehr hinzuzufügen ist. Ein wenig müde wirkt er und traurig. Er schweigt eine Weile und wird erst wieder durch das Auftauchen eines Gastes aus seinen Gedanken gerissen. Es ist der Bärtige, dessen beide Eltern als schwere Säufer am „Korsakow-Syndrom“ verstarben, der selbst keinen Tropfen anrührt und seit dem Abzug der Alliierten arbeits- und obdachlos ist. „Hallo Manfred, wie geht es dir“, begrüßt ihn der Antiquar. Der Bärtige dankt ernst, lässt seinen Rucksack vom Rücken gleiten, holt sich Brot und Suppe, nimmt Platz und isst konzentriert und mit gesenkten Augen. Er ist mittlerweile 52 Jahre alt, Haar und Bart sind gepflegt, niemand käme auf die Idee, einen langjährigen Obdachlosen vor sich zu sehen. In Zeiten, in denen Jung und Alt einen Rucksack auf dem Rücken tragen, so als würden sie in weiser Voraussicht schon mal den Transport des Fluchtgepäcks trainieren, fallen echte Vertriebene gar nicht weiter auf. Keiner weiß, wie der Bärtige lebt. Er ist meistenteils sehr verschlossen und schweigsam. Dem Antiquar jedoch gelingt es manchmal, sich ein wenig mit ihm zu unterhalten. Er zieht sein übliches Büschel mit Notizen aus der Tasche und entfaltet nach einigem Suchen ein bedrucktes Blatt. Nach kurzem Studium fragt er den Bärtigen sanft: „Manfred, wo warst du in der Nacht vom 4. zum 5. September 1999?“ Der Bärtige blickt von seinem Teller auf und mustert den Antiquar mit seinen hellen blauen Augen. „Wer möchte das wissen?“, fragt er knapp und abweisend. „Dein Bezirkswahlamt“, erklärt der Antiquar mit höhnischem Lachen und zeigt auf den Zettel, „auch deine Stimme zählt! In die Altersheime schicken sie die „fliegenden Wahlurnen“. Die Obdachlosen sollen auch wählen gehen. Da, wo du in dieser Nacht geschlafen hast – ich glaub, das war ein Wochenende –, ist dein zuständiges Bezirksamt, in dem du deine Stimme abgeben darfst für die Abgeordnetenhauswahlen. Auch deine Rechte werden geachtet“, fügt er süffisant hinzu. „Ich glaube, es war Tiergarten“, sagt der Bärtige, „aber auf dieses Recht scheiße ich. Leute wie ich zählen nicht. Deshalb kriegen sie auch meine Stimme nicht. Hab neulich mit einem gesprochen, der geht als Möbelpacker. Also die Bonner Politiker, die brauchen nur Schnipp zu machen, dann kommt ihr gesamter Haushalt angefahren, dann kommt ihr Pferd, ihr Motorboot ... Schnipp, und die neue Luxuswohnung wird ihnen eingerichtet hingestellt. Da ist alles drin, das Filterpapier liegt in der Kaffeemaschine für sie bereit! Und dann meckern sie auch noch.“ Er schnippt mit den Fingern in die Luft, wartet, schnippt ein zweites Mal und sagt: „Nichts! Siehst du, was ich meine?!“ Der Antiquar kichert amüsiert und reicht mir den Zettel. „Da, das ist ein Dokument, so was!“