Die Frau aus dem Nichts

Regina Jonas wurde 1935 die erste Rabbinerin weltweit. Die Journalistin Elisa Klapheck hat jetzt ihren Nachlass bearbeitet und ein Buch über sie veröffentlicht  ■   Von Ute Scheub

Sie kam aus dem Nichts und sie ging ins Nichts. Sie wurde in eine bitterarme Familie im Berliner Scheunenviertel hineingeboren, sie wurde in Auschwitz ermordet, ihr Name wurde vergessen. Dazwischen aber war sie neun Jahre lang weltweit der erste weibliche Rabbiner. Fräulein Rabbiner Regina Jonas. Schon als Studentin verfasste sie eine Streitschrift: „Kann die Frau das rabbinische Amt bekleiden?“ Eine Schrift, die in ihrem Niveau bisher noch nicht überboten worden sei, so die Jonas-Forscherin Elisa Klapheck.

Die Journalistin und Aktivistin der Jüdischen Gemeinde editierte die bislang unveröffentlichte Streitschrift und ergänzte sie um eine Lebensskizze von Regina Jonas. „Dieses Buch ist etwas Besonderes“, assistierte ihr am Montag bei der Vorstellung des Werkes Hermann Simon, der Leiter des Centrum Judaicum, der selbst ein Vorwort beisteuerte. Der Raum des Centrums war überfüllt, das Interesse groß.

Wie konnte ausgerechnet so eine, aufgewachsen in den schmuddeligen Hinterhöfen des Scheunenviertels, die mit zwölf das Armenbegräbnis ihres Vaters erlebte, zur ersten Rabbinerin werden? Und wie konnte so eine, die weit über Berlins Synagogen hinaus Aufsehen erregte, dann doch wieder so gründlich vergessen werden, dass man fälschlicherweise der US-Amerikanerin Sally Priesand 1972 den Titel der ersten Rabbinerin zuschrieb? Fragen, die die Jonas-Biografin nur vorläufig beantworten konnte: „Buchstäblich aus dem Nichts tauchte sie in den Zwanzigerjahren auf der Bildfläche der rabbinischen Gelehrtenwelt auf“, schreibt Elisa Klapheck über Regina Jonas.

Vielleicht war es ihre Ausstrahlung: Begeisterungsfähig und temperamentvoll soll sie gewesen sein, kämpferisch, humorvoll, mitfühlend, und vor allem: mit einer glänzenden Redebegabung ausgestattet. Vielleicht aber auch war es der glühende Wille, nichts anderes als Rabbinerin werden zu wollen. Der Beruf habe „mich eigentlich ergriffen, nicht ich ihn“, heißt es in einem ihrer Briefe.

Warum sie dann doch nirgendwo in den Memoiren jener berühmten Männer auftaucht, die ihren Weg kreuzten, bei Leo Baeck nicht und bei Victor Frankl nicht, das ist vielleicht auch wieder das typische Schicksal einer Frau, die für ihre Zeit zu früh kam. Erst jetzt gibt es weltweit über 200 Rabbinerinnen. Auch die gläubige Feministin Elisa Klapheck hat in der Jüdischen Gemeinde viele Jahre für die religiöse Gleichberechtigung der Jüdinnen gestritten und „gedacht, ich sei alleine damit“.

Die Rabbinerin Jonas war für sie eine große Entdeckung: „Sie ist meine Lehrerin geworden.“ Doch zunächst war sie selber Schülerin. Geboren 1902, immatrikulierte sich Regina Jonas nach ihrer Reifeprüfung 1923 in der „Hochschule für die Wissenschaft des Judentums“ und finanzierte ihr Studium durch Hebräisch- und Religionsunterricht. Leo Baeck und andere liberale Rabbiner machten sich damals für das Frauenstudium stark, also war sie nicht die einzige Studentin, wohl aber die einzige, die nicht bloß Religionslehrerin, sondern partout Rabbinerin werden wollte. Das entsprechende Diplom wurde ihr zwar verweigert, aber für ihre 1930 verfasste Abschlussarbeit „Kann die Frau das rabbinische Amt bekleiden?“ erhielt sie die Note „gut“. Für ihre Biografin allerdings eine zu schlechte Note.

Regina Jonas' Argumentation sei weder orthodox noch liberal, sondern eine höchst eigenständige und einzigartige Verbindung von beidem. Tatsächlich machte sich Jonas damals schon eine ähnliche Arbeit, wie wir sie heute von Koran-Kennerin Fatima Mernissi oder von Bibel-Auslegerin Maria Jepsen kennen. Sie wies nicht nur Zweideutigkeiten und Widersprüche in den Heiligen Schriften und ihren Auslegungen nach, sondern verwies auch auf diejenigen Jüdinnen, die nachweisbar mit Macht und religiösen Kompetenzen ausgestattet waren: die sieben Prophetinnen Sarah, Miriam, Debora, Hannah, Abigail, Hulda und Esther sowie die Königin Salome Alexandra.

Nach ihrem Studienabschluss gab Regina Jonas Religionsunterricht, hielt Vorträge, war seelsorgerisch tätig. In den Jahren nach 1933 versuchte sie, die bedrängten Jüdischen Gemeinden in ihrer Würde und Selbstbehauptung zu stärken, Auswanderung kam für sie nicht in Frage: „Sie wollte da sein, wo ihr Volk war“, so ein Zeitzeuge. 1935 endlich nahm ihr der liberale Rabbiner Max Dienermann die mündliche Rabbinatsprüfung ab, sie wurde zum „Fräulein Rabbiner Jonas“.

Ein langes Wirken wurde ihr nicht gegönnt. Ab 1941 musste sie in einer Berliner Kartonagenfabrik zwangsarbeiten, 1942 wurde sie ins KZ Theresienstadt deportiert und 1944 in Auschwitz ermordet. Vorher hatte sie ihre gesamten Schriften in der Neuen Synagoge in der Oranienburger Straße deponiert. Ihr Nachlass tauchte auf Umwegen erst nach der Wende wieder auf, und erst jetzt erscheint er in bearbeiteter Form. „Ihre Geschichte“, so Elisa Klapheck, „hat eine rückwirkende Entfaltung.“

Fräulein Rabbiner Jonas: „Kann die Frau das rabbinische Amt bekleiden?“ Editiert, kommentiert, eingeleitet von Elisa Klapheck. Hentrich & Hentrich 1999, 328 Seiten, Subskription bis 31. 10., 28,80 DM