. . . dann sind die Frauen schlecht

Friederike Meister ist schwanger. Sie weiß seit kurzem, dass der Fötus, der in ihrem Körper wächst, schwerbehindertzur Welt kommen würde. Soll sie also abtreiben? Was sagt ihr Mann dazu, was meinen ihre Kinder? Ein Beitrag über die Liebe, über den Hass und über die Gefühle, mit denen Schwangere oft allein gelassen werden. Und ein Bericht aus dem echten Leben, geeignet, die Sloterdijk-Debatte um genetisch fehlerlose Menschenparks zu konkretisieren von Viola Roggenkamp

Anfangs können wir es nicht zwischen uns zur Sprache bringen. Am Telefon scheint es unmöglich, berührbar zu sein. „Ich weiß, mein Mann hat es mir gesagt“, höre ich ihre Stimme. „Wann wollen Sie kommen? Können Sie jetzt gleich?“ Ich möchte mit einer Frau sprechen, die ein behindertes Kind erwartet und nicht weiß, wie sie sich demnächst entscheiden soll: für eine Abtreibung oder für die Geburt.

Friederike Meister, die ich anrufe, ist diese Frau. Ich bin ihr heimlich dankbar, dass sie mir sofort ins Wort gefallen ist, bevor ich es noch aussprechen musste. Sie redet wie in Eile, und während ich ihr sage, dass es mit nur einer einzigen Begegnung nicht getan sein werde, ich zudem unsere Gespräche auf Tonband aufnehmen möchte, unterbricht sie mich immer wieder: „Ich weiß.“ – „Ich weiß.“ – „Ich weiß.“

Die Tür öffnet mir ihre zwölfjährige Tochter Claudia, die mich mit tief ernstem Gesicht von oben bis unten mustert. Stumm führt sie mich einen langen, schmalen Flur hinunter bis in die geräumige Wohnküche, in der Friederike Meister am Herd steht und Kaffee aufgießt. Ihr Bauch wölbt sich prächtig unter einem graublauen Umstandskleid. Die tristen Farben einer evangelischen Gemeindeschwester. Hatte sie beruflich nicht irgendetwas mit Mode zu tun? „Sie trinken Kaffee?“ Mit viel Milch, bestätige ich.

Claudia nimmt die Milch aus dem Kühlschrank und gießt sie in einen Kochtopf zum Aufwärmen. Die Mutter schickt sie fort. Ihre Tochter tut aber so, als hätte sie nichts gehört, beginnt die Milch aufzuschäumen und schlägt scheppernd mit dem Schneebesen gegen die innere Topfwand. „Claudia, bitte, lass uns allein“, sagt die Mutter sanft und doch drängend. Die Tochter lässt den Schneebesen aus ihrer Hand fallen, dass die Milch herausspritzt und auf der heißen Herdplatte stinkend verbrennt. Sie verlässt die Küche, den Kopf gesenkt wie ein Stier zum Angriff.

Kaum ist sie draußen, sagt Friederike Meister, sich in einen bequemen Korbsessel an den Tisch setzend: „Sie will das Kind. Sie ist die Einzige von uns, für die es kein Wenn und Aber gibt. Für Claudia sind alle anderen potenzielle Mörder. Sogar ihr Vater und ihre beiden großen Schwestern. Und mich bewacht sie wie ein kostbares Gefäß. Als hätte ich gar keine eigene Meinung zu haben.“ Sie hört nicht auf zu erklären: „Vor einem halben Jahr, am Beginn meiner Schwangerschaft, hat sie zum ersten Mal ihre Periode bekommen. Ich glaube, sie hat Angst, mich, ihre Mutter, trotzdem weiterzulieben, auch wenn ich mich gegen das Kind entscheide.“

Während ich noch das Tonband auspacke und fieberhaft in meiner Handtasche nach Papier und Bleistift suche, um unbedingt festzuhalten, was Friederike Meister mir soeben in wenigen Sätzen an Gefühlsverstrickungen in ihrer Familie aufgezeigt hat, begreife ich langsam: mit einer Frau zu tun zu haben, die seit fünf Wochen unentwegt in einer inneren Diskussion mit sich ist, nämlich seitdem sie weiß, dass ihr künftiges Kind, das seit sechs Monaten in ihrem Leib wächst, behindert zur Welt kommen würde.

„Wenn ich morgens aufwache, fühle ich mich fremd, als sei ich ein Monster in meinem Bett. Im Schlaf träume ich, was ich am Tage nicht denken mag, geschweige denn sagen könnte, so sehr schäme ich mich dafür, dass ich mein Kind in mir verderbe. Ich möchte Ihnen einen Traum vorlesen, von letzter Woche.“ Das Tonband läuft: „In meinem Traum ist ein Raum, der ist voller Menschen. Alles Frauen. Es ist die Küche. Ich stehe in der Mitte am Herd, auf dem in einem großen Topf eine sämige Suppe brodelt. Auf der Suppe schwimmt ein rundes, gelbes Gesicht wie ein riesiges Fettauge. Ich will mit einem großen Holzlöffel umrühren, denn die Suppe kocht und steigt hoch. Ich halte den Löffel in der Hand wie einen Speer, wage aber nicht, das Gesicht auf der Suppe zu zerstören. Das Gesicht lächelt mir zu. Ich möchte sein Lächeln schön finden und fürchte mich vor dieser Fratze. Die Frauen in der Küche haben Hunger. Ihre Bäuche sind aufgetrieben, geschwollen. Ich bin völlig mager. Ich muss die Frauen füttern, vor meinem Vater verstecken. 'Wir nennen es die Vorsehung‘, sagt mein Vater und meint das Gesicht. Er steht auf einmal neben mir und guckt in meinen Kochtopf. Er redet auf mich ein, in so einem dozierenden Ton.“

Sie sieht von ihrem Tagebuch auf: „Das konnte ich schon als Kind nicht ab.“ Dann liest sie weiter: „Mein Vater trägt einen weißen Arztkittel.“ Wieder sieht sie auf. „Er ist aber kein Arzt. Er war Beamter.“ Während sie sich über ihr Tagebuch beugt, fügt sie an: „Im höheren Dienst. Im Traum zeigt er auf das Gesicht in der Suppe und sagt: 'Außer seinem Kopf hat es nichts. Der Mund ist Eingang und Ausgang des Körpers.‘ Es ekelt mich bei dem Gedanken, was alles aus dieser einen Öffnung herausquellen kann. Ich sehe, dass dem Gesicht, das mein Vater 'die Vorsehung‘ nennt, die Nase fehlt, und habe Angst, von dem feuchten, breit lächelnden Mund verschlungen zu werden. Mein Vater sagt lapidar: 'Es hat keine lange Lebensdauer.‘ Dass er das so gelassen ausspricht, dafür will ich ihn schlagen, vielleicht erschlagen, mit dem langen Kochlöffel. Aber der steckt nun im Mund der Vorsehung, ich kriege ihn nicht heraus.“

Friederike Meister ist 42 Jahre alt und war vor zwölf Jahren zuletzt schwanger. „Ich habe die Fruchtwasseruntersuchung gemacht, weil ich dem Kind gegenüber fair sein wollte. Das ist wirklich wahr. Ich habe gedacht, weil ich schon älter bin, kann ich vielleicht keine gute Schwangere mehr sein. Konrad, mein Mann, und ich, wir hatten gar nicht mehr damit gerechnet. Und da dachte ich, ich muss nachsehen lassen vom Arzt, ob ich das noch richtig gut machen kann, ein Kind in meinem Bauch wachsen lassen.“

Nach drei Töchtern erwartet sie jetzt einen Sohn, den in Friederike Meisters Familie lang ersehnten Jungen. „Die Mutter meiner Mutter, die war Mutterkreuzträgerin unter Hitler, die hatte fünf Kinder, aber alles Mädchen. Auch meine Mutter wollte immer einen Sohn und bekam nur mich. Ich bin einziges Kind. Mit meinem Vater habe ich mich immer gut verstanden. Ich bin, glaube ich, eine richtige Vatertochter.“ Sie lächelt stolz, dabei laufen ihr Tränen über das Gesicht. „Mein Vater war der mittlere von drei Brüdern und als Kind sehr ängstlich. Seit seiner Pensionierung widmet er sich ganz seinem Verein. Er ist Kassenwart bei irgend so einem Verband, da geht es um Rassehunde oder so.“ Sie sagt das Wort „Rassehunde“, als ob sie sich dafür geniere.

Die Nachricht kam per Telefon. Friederike Meister war am Apparat. Hygroma Colli, Wassereinlagerung im Hinterkopf und Hals, Kleinwuchs und geistige Behinderung in noch unbestimmbarem Ausmaß. „Ich war wie erstarrt. Das hielt einige Tage und Nächte an. Als wollte ich es in mir erkalten, absterben lassen, dass es nicht länger in meinem schlechten Leib sein muss, und auch, dass es mein Inneres nicht noch schlechter macht. Solche Fantasien. Mein Mann regte sich vor allem über den Arzt auf, dass der es nicht für nötig befunden hatte, uns bei dieser Nachricht in seine Praxis zu bitten. Für den wären das schlecht bezahlte Praxisminuten gewesen.“

Eine Woche später habe der Arzt noch einmal angerufen. Er entschuldigte sich. Es seien zwei Befunde vertauscht worden. „Die Behinderung bei meinem Fötus sei nicht so schwer.“ Nur Trisomie 21, Down-Syndrom, früher Mongolismus genannt. Sie könne natürlich abtreiben lassen, aber er würde nicht dazu raten. Die Gesellschaft sei heute doch toleranter als vor zwanzig, dreißig Jahren. Zudem seien diese Kinder sehr liebebedürftige Geschöpfe, die einer Mutter viel Liebe zurückgeben würden. So habe er sich ausgedrückt.

„Seit diesem Anruf“, sagt Friederike Meister mit schmalen Augen, „habe ich einen solchen Hass auf diesen Arzt, das können Sie sich gar nicht vorstellen.“ Sie greift sich mit beiden Händen ins Haar und zieht einen rotbraunen Kamm heraus. Lange, braune Locken fallen über ihr Gesicht. „Ich sollte dankbar sein für die Nachricht. Das Kind ist weniger schwer behindert als ursprünglich angenommen. Seitdem aber habe ich das Gefühl, dieser Mann will mich gängeln. Der will mich moralisch zum Austragen zwingen.“

Claudia kommt in die Küche. Sie sagt, dass sie sich eine Scheibe Brot mit Marmelade machen wolle. Währenddessen beginnt ihre Mutter aufzuzählen, welche Einschränkungen und Belastungen auf sie zukämen, würde sie das Kind bekommen. Sie wolle endlich wieder zurück in ihren Beruf. Sie sei Einkäuferin in der Modebranche und ganz erfolgreich gewesen, jetzt aber schon recht alt, mit ihren 42 Jahren ziemlich alt für Leute in ihrer Branche. Es werde höllisch schwer werden. Aber so alt sei sie nicht, dass sie auf alles verzichten müsse, „um nur Mutter“ in ihrem Leben gewesen zu sein.

Sie erinnert sich, dass sie „nach der Geburt von Claudia kapituliert“ habe. Drei Kinder, Haushalt und Beruf – „zu Modeschauen und Textilmessen reisen? Das war nicht machbar.“ Jetzt könne sie wieder, jetzt wolle sie. Unbedingt. Die letzte Chance für sie. Ihre Töchter seien groß. Auch ein gesundes Kind hätte sie abgetrieben. Vielleicht. Sie habe ein schwaches Herz. Eine Geburt in ihrem Alter könne für sie gefährlich sein. Obwohl ein völlig gesundes Kind nicht ihre ganz besondere Aufmerksamkeit gebraucht haben würde. Nicht so intensiv. Nicht lebenslänglich.

„Aber irgendwas ist ja immer mit den Kindern“, sagt Friederike Meister und wendet sich mit geröteten Augen, wie schuldbewusst, zu ihrer jüngsten Tochter um. Claudia lehnt am Küchenschrank und isst, ja, frisst, schlingt ihr Brot hinunter, ebenso hastig, wie ihre Mutter bis eben überstürzt gesprochen hat.

Als wir uns an diesem Vormittag voneinander verabschieden, ist Friederike Meister entschlossen: „Die Abtreibung muss sein. Es ist besser so. Für alle. Auch für meine Töchter.“ Claudia habe es zur Zeit schwer auf der Oberstufe. Sie brauche Unterstützung. Verena, die Älteste, sei seit zwei Jahren aus dem Haus, und Angelika, die Mittlere, werde im nächsten Frühjahr nach Tübingen ins Studium gehen. „Mein Mann ist Ingenieur im Tiefbauamt. Der ist den ganzen Tag unabkömmlich. Ich wäre allein damit.“

Bei meinem nächsten Besuch öffnet mir Konrad Meister die Tür. Es ist früher Abend. Er ist gerade aus der Behörde nach Hause gekommen. Hinter ihm steht Claudia, stumm und wachsam. Immerhin schenkt sie mir diesmal ein schmales Lächeln, was mich hoffen lässt, die Tochter beginne die Entscheidung ihrer Mutter für eine Abtreibung zu akzeptieren. Mit dieser Aussicht auf emotionale Entspannung setzt in mir sofort eine Trauer um das verloren gegebene Kind ein.

Am Küchentisch sitzt Friederike Meister mit hochroten Wangen und hektisch strahlenden Augen. Sie trägt diesmal ein knallrotes Umstandskleid und hält ihre Hände über ihrem schwangeren Bauch gefaltet. Claudia macht sich wieder am Herd zu schaffen. Sie gießt Kaffee auf, während Konrad Meister die Tassen verteilt. Er sei bereit, das betont er immer wieder, „diese schwere Aufgabe anzunehmen“, dass aber die letzte Entscheidung sie habe, seine Frau, „die Mutter“. Das respektiere er voll. Darin sei sie ganz allein. „Ich weiß“, wirft Friederike Meister dazwischen ein, „ich weiß.“

Es kommt wie Tritte in seinen Bauch. Ich werde kurzatmig. Claudia sagt triumphierend: „Mutti bekommt ihn jetzt doch, meinen Bruder.“ Der Vater sieht schmerzvoll lächelnd auf seine Tochter.

„Alle raten mir zur Abtreibung. Freunde, Verwandte, alle“, sagt Friederike Meister hart auflachend. „Niemand wird mit mir den Platz tauschen wollen, wenn das Kind da ist. Sie sollten meine Mutter hören. Was ich denn an einem solchen Jungen hätte?“ Sie zeigt Kinderbilder von sich. Ein dreijähriges Mädchen in Lederhosen, auf dem Arm ihres stolz lächelnden Vaters. „Ich heiße Friedrike, weil ich ein Friedrich werden sollte, und meine Mutter wurde eine Geraldine.“

In Anbetracht dieser Töchter zweier Generationen, die für ihre Mütter und Väter keine vollwertigen Jungen sein konnten, fällt mir Friederike Meisters Traum ein, das lächelnde Gesicht, dem die Nase fehlte, das überdimensionale Fettauge, aus dessen Mund, wie aus der Vagina einer schwangeren Frau, hervorquellen konnte, wovor Friederike Meister sich im Schlaf hatte ekeln können. Und die ganze Zeit schon spricht Konrad Meister auf mich ein. In seiner Familie habe es nie „einen Fall von Anomalie“ gegeben. Vorkommen könne so etwas natürlich immer, in jeder Familie. Er habe gelesen, jeder Mensch sei Anlageträger für mindestens sechs Erkrankungen. „Der Arzt meiner Frau“, sagt er zu mir – worauf Friederike Meister ihm ins Wort fallend mir mitteilt, dass sie jetzt bei einer Ärztin sei –, „also der gewesene Arzt meiner Frau hat erzählt, es gibt Frauen, die lassen ihr Kind nur wegen einer Hasenscharte noch in der 27. Woche abtreiben, obwohl das ganz einfach behandelt werden kann.“

Das Ehepaar sitzt nebeneinander und sieht sich nicht an. Beide sprechen auf mich ein. „Aus Angst!“, wirft Friederike Meister ein. Ihre Stimme ist höher geworden in der Aufregung. „Die Frauen lassen abtreiben aus Angst, da könne noch mehr sein. Bis zu 75 Prozent können die Ärzte erkennen. Aber was ist mit den anderen 25 Prozent? Und dass sie sich irren können, das haben wir ja selbst erlebt. Eine Abtreibung ist für eine Frau eine Tötung, egal ob in der 14. oder nach der 27. Woche.“

Konrad Meister nickt stumm. Dann beginnt er von neuem vor mir sein Fachwissen in dieser lastenden Angelegenheit auszubreiten. Ihr Kopf senkt sich, während sie ihm zuzuhören scheint. Die Gentechnik, die Vererbungslehre mache soviel möglich heutzutage. Man könne schon Darmkrebs genetisch früh erkennen. Sein Vater sei übrigens an Darmkrebs gestorben, immerhin erst im 79. Lebensjahr.

Er spricht von früher, dass „früher viele dieser Geborenen“ zu medizinischen Experimenten ins Labor genommen und in Anstalten hinter verschlossenen Türen am Leben erhalten worden seien. „Schon vor der Nazizeit. Der Mutter haben sie gesagt, das Kind sei tot geboren.“ Der sei dann ein anderer toter Säugling gezeigt worden. „Ich werde es bekommen“, sagt Friederike Meister auf einmal. „Du wolltest doch auch immer einen Sohn.“ Ja, sagt ihr Mann, seine Stimme klingt grau.

„Ich war immer auch mit ganzem Herzen Mutter meiner Kinder“, hebt Friederike wieder an. „Vielleicht ist es wirklich sinnvoll, für dieses hilflose Geschöpf ein Opfer zu bringen.“ Was dieses Kind alles erfüllen muss, denke ich: schuld sein an der Entbehrung der Mutter, der Eltern, dankbar sein, liebevoll sein, hilflos bleiben. „Es wird ja nicht immer ein Kind sein“, überlegt Konrad Meister. „Was, wenn wir nicht mehr sind, wenn es erwachsen ist?“ Jetzt mischt sich die zwölfjährige Claudia ein: „Zum Beispiel Sexualität? Was ist mit seiner Sexualität? Darf er Kinder haben?“

Friederike Meister vermeidet es, ihren Mann anzusehen. „Mit einer Frau vielleicht wie er“, sagt sie leise. Claudia lehnt sich an ihren Vater. Dem geht das alles entschieden zu weit: „Na, ich weiß nicht“, sagt er stirnrunzelnd. „Es wird Geld kosten. Das muss auch gesagt werden dürfen.“ Er ist verlegen: „Die besondere medizinische Betreuung, die besondere Schule, die besondere Unterbringung, die besondere Pflege.“ Sie wüssten bereits, dass der Fötus einen angeborenen Herzfehler habe. Zudem sei die Anfälligkeit für Leukämie bei Down-Syndrom besonders hoch.

Claudia ist blass geworden: „Wird er denn nicht lange leben?“ Der Vater nimmt sie in seine Arme. „Vielleicht zwanzig, vielleicht dreißig Jahre“, sagt er. Und während Claudia den frühen Tod ihres noch ungeborenen Bruders beweint, sagt Friederike Meister leise: „Dann bin ich 62 oder 72 Jahre alt, und das war es dann.“

Bei meinem dritten Besuch öffnet mir Angelika, die neunzehnjährige Tochter. Sie ist im Begriff zu gehen. „Meine Mutter ist hinten, im Schlafzimmer. Sie liegt.“ Friedrike Meister und ich sind heute allein. Ihr Mann ist im Tiefbauamt, Tochter Claudia in der Schule. Sie liegt angezogen im Bett und hat ihren hochgewölbten Bauch unter vielen Decken verborgen.

Sie wirkt nach außen lethargisch und ist von innerer Rastlosigkeit. Was soll sie tun? Was darf sie tun? Was will sie tun? „Wenn die Frauen für sich nutzen, was die Wissenschaftler erforschen und möglich machen, dann sind die Frauen schlecht. So ist es doch.“ Ich setze mich zu ihr.

„Ich will versuchen, ganz ehrlich zu sein“, sagt sie und nimmt meine Hand: „Ich habe Angst, in meinen Beruf zurückzugehen. Ich habe Angst, unter den anderen nicht gewollt zu sein. Das hört sich an, als würde mein behindertes Kind aus mir sprechen. Darum habe ich riskiert, schwanger zu werden, obwohl ich eigentlich wieder in meinen Beruf und unter Menschen will. Ich habe mich aus Angst vor meiner Zukunft behindert mit dem behinderten Kind in mir. Ich will noch einmal was Neues anfangen für mich. Ich will hier raus. Ich bin schuld. Wie kann ich das wieder gutmachen, wenn ich es abtreibe?“

Viola Roggenkamp, 51, Autorin der taz und der Zeit, lebt in Hamburg. Ende vorigen Jahres schrieb sie im taz.mag über die Geschichte einer Geburt: „Der Weg in ein anderes Universum“. Die Namen in dieser Geschichte wurden geändert.