Bestrafen Sie sich selbst!

Alte Hassliebe rostet nicht. Im ehemaligen Duodezfürstentum Schaumburg-Lippe wird der preußische Geist wahlweise mit flammender Ergebenheit hochgehalten – oder schmählich verlacht. Einblicke aus der Provinz

von ULRICH REINEKING

„Der König von Preußen / Der kann nicht mal scheißen“, hieß es während meiner Kindheit im Schaumburger Land der frühen Fünfzigerjahre, bevor dieser etwas gewollte Endreim verdrängt wurde durch den Abzählvers „Caterina Valente / Hat’n Arsch wie ’ne Ente ...“

Diese erste mir noch erinnerliche Aussage zur Pathologie des Preußentums fand in den folgenden Jahrzehnten jede Menge Ergänzungen, die allesamt unter solch verdauungsgestörten Vorzeichen standen. Eigentlich nicht verwunderlich, gehörte der heutige Landkreis Schaumburg mit seinen historischen Bestandteilen Schaumburg-Lippe und Grafschaft Schaumburg doch immer zu einem geschichtlichen Raum, der sich im regionalen Dissenz zu Preußens Gloria entwickelte.

Die Kleinstaaterei beförderte während des 18. und 19.Jahrhunderts in ihrer erhabenen Lächerlichkeit Blüten und Stilblüten, zog Geistesriesen wie Johann Gottfried Herder und Philipp Emanuel Bach an. Beflügelte gar den sonst so oberförsterlichen Heidedichter Hermann Löns während eines kurzen Gastspiels als Redakteur der Landeszeitung im schaumburg-lippischen Bückeburg zu seiner Satire „Duodez“, in der er seinen milden Spott über diesen von der Welt- und Nationalgeschichte so zauberhaft im nowhere land vergessenen Kleinstaat verspritzte.

Preußen aber stand, wo der Ernst des Lebens zu Hause war. Wo exerziert und füsiliert, wo marschiert, paradiert und administriert, vor allem aber regiert wurde. Die Distanz preußischer Etikette zum lebensvollen schaumburgischen Schlendrian war so groß, dass sie überall dort gesonderte Erwähnung fand, wo ihr Geltungsbereich die Grenzen Schaumburgs berührte. Das galt für die alte Grafschaft Schaumburg unter zeitweise hessischer Herrschaft ebenso wie für das schaumburg-lippische Fürstentum in seiner relativen Selbständigkeit: Preußen lag immer nur drumherum, weshalb das fünf Kilometer von den Duodezgrenzen entfernte Minden nie ohne das Adjektiv „preußisch“ auskam und der Sportverein von Hameln heute noch mit dem Zusatz „Preußen“ leben muss; was zumindest in den maßgeblichen Schaumburger Ohren weiterhin als Schimpfwort gilt.

Während meiner Schulzeit am Rintelner Gymnasium Ernestinum fand in den Sechzigerjahren selbst das kollektive Rebellentum der Zeit einen Kristallisationspunkt in der bewussten Hinwendung zum Schaumburgischen, weshalb es denn auch trotz aller internationalistischen Orientierung zum nationwide operierenden Unabhängigen Sozialistischen Schülerbund USSB die separatistische Variante gab, den USSSB, wobei das zusätzliche S selbstverständlich für Schaumburg stand.

Befördert wurde dieses Selbstverständnis durch Feindbilder aus der Lehrerzunft, die sich dem Preußentum verpflichtet fühlten. Etwa durch den aus dem Berliner Raum stammenden Turn- und Mathelehrer, der uns unter dem Kommando von Schnarrstimme und Trillerpfeife durch den Stadtpark exerzieren ließ, wie zum Hohn dabei das Singen des Liedes anordnend: „Wir woll’n im schönen grünen Wald / Ein freies Leben führen!“

Dieser Mensch, dessen vorrangiges Lebenswerk in der Erfindung einer aus zwei Holzleisten bestehenden Startklappe für die Laufwettbewerbe der so genannten Bundesjugendspiele bestand, entblödete sich nie, die Sinnfälligkeit sportlichen Tuns von ihrer militärischen Verwendbarkeit her abzuleiten: „Wer da so lahmarschig über den Kasten krabbelt, der wäre beim Kommiss sofort im Bau gelandet. Befehlsverweigerung, zackzack! Und im Ernstfall längst vom Feind oder vom Vorgesetzten wegen Feigheit erschossen worden, außerdem!“

Im Schlagballweitwurf sah dieser preußische Zuchtmeister übrigens ein Früherkennungssystem „für Jungs, die nicht ganz richtig gepolt sind“. Und polterte im bullerig ausgedehnten, aber stets gebügelten Trainingsanzug über den Sportplatz: „Wat stehste da wie’n Schluck Wasser mit dieser eindeutig weiblichen Wurfhaltung? Da kannste wohl ’ne Damenbinde mit innen Kübel werfen, aber wenn der Ball ’ne Handgranate wär: Die Flosse, die wäre dreimal weg.“ Meckernd schloss er solche Sentenzen regelmäßig mit den Worten ab: „Wartet mal, bis euch der Kaiser in Brot jenommen hat. Dann wird euch der Leutnant schon den kleenen Arsch uffreißen!“

In Deutsch und Geschichte aber hielt uns Studienrat Schulzig angesichts der Vielzahl der zur Kriegsdienstverweigerung Entschlossenen vor: „Sie denken immer noch, es geht wie bei den Hessen zu, als die Schaumburger vom Landesvater als Soldaten verkauft wurden. Oder Ihnen steckt noch Langemarck in den Knochen, das verstehe ich. Das Blut der Einjährig-Freiwilligen, auf dem Schlachtfeld gegeben, dem Befehl gehorchend und in der Pflicht geopfert. Aber ich kriege das Positive am Preußentum noch in Ihre Köppe. Gegen diese geschichtslose hessisch-schaumburgische Weicheierei lesen Se mal die Liebesbriefe von Bismarck an seine Frau: das Schönste, was das Preußentum für Sprachkultur und Herzensbildung der Deutschen geleistet hat.“

Als regionale Bestrebungen für ein unabhängiges Bundesland Schaumburg aufkamen, waren Konflikte mit den Freunden des Fehrbelliner Reitermarsches vorprogrammiert. „Uns Preußen hat nach dem verlorenen Krieg niemand von den Siegern gefragt, was wir wollen. Aber ich war Preuße, ich bin es und werde es bis zum letzten Atemzug sein!“, krächzte der germanistische Choleriker in den Klassenraum hinein, dabei mit Kreide über die feixende Schülerschar werfend, um so die für den Schützengraben passenden Gefühle zu veranschaulichen: „Schiss hilft da gar nichts, nicht einmal dem größten Feigling. Aber Disziplin, eiserne Disziplin, Gehorsam bis zum letzten Tropfen – das rettet zwar nicht in jedem Spezialfall dem Individuum, aber doch der größtmöglichen Gruppe das Leben. Und deshalb bin ich Preuße. Bis zum letzten Tropfen, Männer! Und deshalb liegt hier auch die Zukunft des Abendlands gegen die Horden der Nivellierung und des Chaos, die wie die apokalyptischen Reiter über uns einfallen werden!“

War der Preuße dann von der Wucht des eigenen Auftritts hinreichend erschüttert und erschöpft, fragte schon mal ein Anonymus aus der vorletzten Bank, welcher letzte Tropfen denn wohl gemeint sei – Blut, Schweiß, Schnaps oder Sperma? Spätestens jetzt war der Unterricht gelaufen. „Der charakterlose Lump, der in Gegenwart von jungen Mädchen so etwas gesagt hat – er soll sich melden“, forderte Studienrat Schulzig mit Nachdruck. Stellte nach ergebnislosen Minuten des Wartens Straffreiheit in Aussicht, gab darauf sein preußisches Ehrenwort, und nachdem sich tatsächlich irgendein Depp gemeldet hatte, schilderte er dramatisch seinen inneren Konflikt, dabei in agitiertem Eifer vertrackte Garnisonskirchenethik bellend: „Lasse ich so was durchgehen, versündige ich mich an der Disziplin. Und wenn ich Sie bestrafe, handele ich meinem Ehrenwort zuwider. Sehen Sie nicht, in welche verzweifelte Lage Sie mich bringen, vor Gott und der Welt? Das ist wie der Konflikt des Preußen Friedrich, lesen Se mal bei Heinrich von Kleist, Prinz von Homburg, Katte und so weiter. Mein Vorschlag: Betrachten Sie sich als getadelt. Und bestrafen Sie sich selbst – so hart, wie es die Wiederherstellung Ihrer inneren Würde verlangt!“

Preußentum. Für mich seit jener Zeit eine exzessive Mischung aus Phrase und Pathos. Schmierenkomödie vor wackelnder Kulisse. Zornickel goes Babelsberg. Der Untertan als titanisches Konzept. Und vom guten Kant Immanuel aus dem ostpreußischen (!) Königsberg bleibt nicht einmal die liebenswürdige Definition von Anarchie als Ordnung ohne Herrschaft für das Lesebuch erhalten.

Und plötzlich ist das ganze Preußenrimborium für die Pöterweisen dieser Welt wieder ernst und wichtig. Wird in seinen sozialen und politischen Implikationen von Menschen diskutiert, mit denen man vor Jahr und Tag noch gern ein Pfeifchen um des lieben Friedens willen geraucht oder doch wenigstens einen Verachtungsschluck auf diesen und jeden Staat genommen hätte. „Der Kaiser ist ein lieber Mann / Er wohnet in Berlin.“ Und da soll er bleiben, bis die Russenmafia auf dem Panzerkreuzer Aurora unter mindestens acht Segeln und mit fünfzig Kanonen über den Landwehrkanal schippert und zur Revanche bläst. Ich bin kein Preuße. Und keinen Pfennig vom Honorar an die Preußische Nationalstiftung! Die haben schließlich schon die abgelegten Turnschuhe von Minister Joseph Fischer, damit es nach freudig erfüllter Pflicht stinkt.

ULRICH REINEKING, 51, ist Redaktionsleiter der „Schaumburger Zeitung/Schaumburg-Lippischen Landeszeitung“ in Rinteln, Anhänger des Provinzialismus und schreibt in der taz Bremen „UrDrüs wahre Kolumne“