Zweitwohnsitz revisited

Das Café M 1987, das Café M 2001: Wenig hat sich geändert, vieles ist anders. Eine Kurzgeschichte

von GERRIT BARTELS

Es scheint sich wenig geändert zu haben, als B. an diesem trüben Winternachmittag mal wieder das kleine Café in der Goltzstraße betritt. Der schmale Raum wirkt mit seinen schmuddelig beigegelb gestrichenen Wänden kahl wie immer. Auf der rechten Seite zieht sich die Theke bis zum Münztelefon und dem kleinen Durchgang für die Toiletten, auf der linken Seite stehen die roten Kunststofftischchen und die schwarz, grün oder rot geflochtenen Plastikstühle.

Viele Leute sind nicht da, wie eigentlich nie an späten Nachmittagen, und B., der bestimmt zwei Jahre nicht mehr hier war, muss daran denken, dass es das Café schon seit über zwanzig Jahren gibt und immer noch in Reiseführern als „Szene-Location“ bezeichnet wird: Ganz ironiefrei und nicht mit dem geringsten Hinweis darauf, dass das Café seine beste Zeit vielleicht schon hinter sich hat.

An einem der Tische vorne sitzen zwei Frauen, die sich über Babs und Boris und den letzten Abend in einem Schöneberger Promiclub unterhalten. B. hat sie schon früher hier gesehen, und sie sitzen so selbstverständlich und gelangweilt an ihrem Tisch, als würden sie das Café als ihr Wohnzimmer betrachten. Zwei Tische weiter sitzt ein anderer Mann, rührt in seinem Milchkaffee und blättert im Tagesspiegel. B. weiß, dass er Taxifahrer ist, weil er oft mit einem Taxi vor dem Café vorfuhr. B. kennt ihn schon seit Jahren, hat aber noch nie mit ihm gesprochen.

Nicht nur das Café, sondern auch seine Gäste scheinen die Zeit einfach überdauert zu haben, denkt B. sich beim Anblick der beiden Frauen und des Taxifahrers. Und er erinnert sich wieder daran, wie er selbst das Café im Frühjahr 1987 das erste Mal betrat.

Es war sein erster Abend in Westberlin. Mit ein paar Sachen hatte er sich bei einem Freund in der Gleditschstraße einquartiert, um sich von hier aus rechtzeitig zum Studienbeginn eine Wohnung in Berlin zu suchen. Sein Freund führte ihn dann in das Café - weil es um die Ecke war, aber auch weil es damals zu den Läden gehörte, in die „man“ ging. Mancherorts hieß es zwar, die großen Zeiten seien vorbei, für das Café genauso wie für die Bezirke Kreuzberg und Schöneberg. Doch das störte B. nicht, er ahnte, dass es zu allen Zeiten den Berliner Neuankömmlingen schwer gemacht wurde.

Es war voll an diesem noch kalten Frühlingsabend. B.und sein Freund fanden gerade noch einen Platz in der Ecke, direkt unter der Box, aus der die Musik so laut tönte, dass beide sich nur anschreien konnten. Das machte aber nichts, nach ein paar Bier hatte sich ihre eigene Lautstärke dem Geräuschpegels des Cafés angepasst.

Ungewöhnlicher für B. war, dass die Bedienungen nicht sehr freundlich waren. Es gehörte zum Bestellen am Tresen dazu, lange ignoriert zu werden und warten zu müssen. Die Getränke bekam man dann wortlos auf die Theke gestellt

Auch die Blicke, die B. zu verfolgen schienen beim Warten vor der Theke und seinen Gängen auf die Toilette, irritierten ihn. Es war wie auf einem Laufsteg, von oben bis unten wurde man ausgemessen und gemustert, besonders natürlich von denen, die mit dem Rücken zur Wand saßen.

Mit der Zeit aber hatte B. sich an die Besonderheiten in dem Café gewöhnt, und er wurde Stammgast. Vor allem samstagsnachmittags kam er mit der U-Bahn aus Neukölln, wo er inzwischen eine Wohnung gefunden hatte und lief durch die Schwäbische Straße und die Barbarossastraße in die Goltzstraße, um im Café die Zeitungen zu lesen und ein erstes Flensburger oder Budweiser zu trinken - das ansonsten in Westberlin allgegenwärtige Beck‘s gab es hier nicht.

Eine andere Besonderheit des Cafés war es, dass man hier stets allein blieb - ein Vorzug, den B., der aus Hamburg kam und zwei Jahre in Göttingen studiert hatte, zu schätzen wusste. In den acht, neun Jahren, in denen er regelmäßig kam, lernte er nie jemand kennen.

Als er jetzt „den Taxifahrer“ wiedersieht, kommen ihm allerdings viele der anderen Stammgäste des Cafés wieder in den Sinn. Er fragt sich, ob sie sie sich auch ihre Überlegungen über ihn gemacht haben, möglicherweise einen besonderen Namen für ihn hatten?

Er erinnert sich zum Beispiel an „den Serben“, der einen roten Sportwagen besaß und in größerer Runde mal verlauten ließ, er sei aus Belgrad. Oder an „den Franzosen“, der einen Saab mit französischen Kennzeichen fuhr und immer ein Lächeln auf seinem Gesicht spazieren trug.

Es gab „den Perser“, der einfach so aussah, nur Kaffee trank und manchmal für ein paar Monate in einer Nervenklinik verschwand, und es gab „den Skatebordfahrer“. Dieser fuhr mit seinem Skateboard gern auf dem Winterfeldplatz herum und kam dann ins Café mit einem R 4, auf dessen Dach ein Kanu (!) befestigt war. Ob als einfacher Zierrat oder Kunst oder weil der Skateboardfahrer es tatsächlich benutzte, brachte B. nie in Erfahrung.

Dann war da der „Joyce-Leser“, der nur Anzüge trug und nach dem dritten Bier den „Ulysses“ regelmäßig zur Seite legte; die Frau, die aussah wie Michelle Pfeiffer, ihr Budweiser am liebsten aus dem Glas trank und nach dem vierten oder fünften Bier selig vor sich hin grinste; der stets braungebrannte, schon etwas ältere Herr, der nur im Sommer kam, einen weißen Schal trug und seine Zigaretten mit Mundstück rauchte.

Sie alle gehörten zu einer bestimmten Spezies von Leuten, die das Café zu ihrem Zweitwohnsitz erklärt hatten. Die ein bisschen sonderbar waren, vielleicht berühmt, vielleicht gerade dabei, sozial abzugleiten. Sie waren der Mittelbau, der ein Café wie dieses ausmacht. Sie standen dem Sänger und Gitarrist der Einstürzenden Neubauten oder dem DJ in den Tarnanzügen genauso nah wie dem immer total betrunkenen Penner, der wahlweise „der Professor“ oder „Franz Schwanz“ genannt wurde.

Irgendwann ging B. nicht mehr so häufig ins Café. Er hörte dann von Freunden, dass es mittlerweile „Themenabende“ gebe, zu Halloween, Silvester oder dem Valentinstag; dass Sonntags öfters DJs im hinteren Teil des Cafés Platten auflegen oder manchmal an den speckigen Wänden auch Pop-Art-Bilder hängen würden.

Aber auch in B.s Beziehung zu den anderen Stammgästen des Cafés hat sich was getan. Gelegentlich trifft er den „Joyce-Leser“, den „Franzosen“ oder andere irgendwo anders in der Stadt, und plötzlich, der gewohnten Umgebung entrissen, grüßt man sich freundlich. Manchmal zögert B. und überlegt, ob sie nicht auch mal ein Gespräch führen sollten. Doch was sagen nach so vielen Jahren?

Der Taxifahrer jedoch macht an diesem Nachmittag keine Anstalten, ihn auch nur eines Blickes zu würdigen. Der Taxifahrer ist die ganz alte Schule, und er scheint nie eine Auszeit genommen zu haben. Er ist hier noch immer zuhause.

Umso freundlicher sind die beiden jungen, männlichen Bedienungen, die den Milchkaffee nach der üblichen Bestellung an der Theke doch tatsächlich an den Tisch bringen. Trotzdem hat B. sich vorgenommen, wieder öfters zu kommen.