Die dunkle Seite

Ray Lewis, Abwehrrecke der Baltimore Ravens, will vor der Super Bowl gegen New York endlich an Football denken

BERLIN taz ■ Er ist der momentan beste Defensivspieler im American Football. Er ist die Schaltzentrale der erfolgreichsten Verteidigung in der Geschichte der National Football League (NFL). Er ist der Hauptgrund dafür, dass die Baltimore Ravens als krasse Außenseiter die Super Bowl erreicht haben und morgen in Tampa Bay um den NFL-Titel gegen die New York Giants spielen.

Ray Lewis (25) könnte aber, anstatt gegnerische Running Backs aufzuhalten, genauso gut auch im Gefängnis sitzen. Vor noch nicht einmal einem Jahr drohte ihm eine lebenslange Haftstrafe. Nach der Super Bowl in Atlanta, bei der er unter den Zuschauern war, wurde er zusammen mit zwei Freunden verhaftet und verbrachte 15 Tage in Untersuchungshaft. Vor einer Bar waren zwei Männer durch Messerstiche umgekommen, Lewis und seine Freunde waren die Hauptverdächtigen, sie hatten in der Bar eine Party besucht. Zwar wurde er schließlich von der Mordanklage freigesprochen, aber aufgrund von Falschaussagen wegen Behinderung der Justiz zu einer Haftstrafe auf Bewährung verurteilt. Die Mörder sind bis heute nicht gefunden.

So verbrachte Lewis am traditionellen Media Day vor der Super Bowl die Stunde, die er den Medien zur Verfügung stehen musste, ausschließlich damit, Fragen zu seiner Vergangenheit zu beantworten, bis er auf die 150 insistierenden Reporter schließlich mit einem genervten „Football, Football, Football“ reagierte. „Nachdem ich in Atlanta um mein Leben gekämpft hatte“, so Lewis kürzlich über den Mordprozess, „sagten alle, Ray Lewis wird niemals wieder so gut, wie er einmal war. Sie hatten Recht: Ich bin noch besser.“ Lewis spricht regelmäßig von sich in der dritten Person, bezeichnet sich schon mal als „Gladiator“, nennt das, was auf dem Spielfeld stattfindet, einen „Krieg“ und trägt ein Selbstbildnis in Spielkleidung auf seine Haut tätowiert. Er will, so sagt der Middle Linebacker, „der Beste werden, der jemals diese Position spielte“.

An Selbstbewusstsein mangelt es ihm nicht. Zu Recht. „Er ist schon einer der Besten, die jemals dieses Spiel gespielt haben“, sagte Mike Shanahan, Trainer der Denver Broncos, nachdem sein Team im Achtelfinale gegen Lewis’ Ravens nur drei Punkte zustande bekommen hatte. Nur sieben mehr schafften die Tennessee Titans im Viertelfinale. Deren Quarterback Steve McNair gab nach dem Spiel zu Protokoll, von „einem der besten Linebacker aller Zeiten“ überrollt worden zu sein, und musste sich nach einer solchen Aktion von Lewis eine Weile am Spielfeldrand erholen. Gegnerische Running Backs, so erzählen es andere Ravens, haben so viel Angst vor Lewis, dass sie vor den Spielen versuchen, durch Small Talk ein freundschaftliches Verhältnis aufzubauen. Von den Journalisten wurde er mit überwältigender Mehrheit zum besten Defensivspieler der Saison gewählt.

Dass sich der 1,85 Meter große und 110 Kilo schwere Lewis zum Schrecken der NFL entwickeln konnte, liegt aber auch daran, dass das Defensivspiel der Ravens auf ihn zugeschnitten ist. Der Middle Linebacker ist die zentrale Position in den modernen Football-Verteidigungssystemen. Während die zehn Kollegen relativ festgelegte Aufgaben haben, muss Lewis meist selbst erkennen, ob der Gegner laufen oder passen will. Dann muss er kräftig genug sein, einen durch die Mitte durchbrechenden Running Back zu stoppen, aber auch schnell genug, ihn bis zur Seitenlinie zu verfolgen. Bei Pässen wiederum muss er sich zurückfallen lassen und wesentlich flinkere Passfänger decken. So kommt es, dass Lewis auf dem ganzen Feld zu finden ist. Die Ravens haben sich sogar Spielzüge ausgedacht, in denen die angreifenden Gegner ganz bewusst in seine Richtung gelockt werden. Schließlich ist der psychologische Effekt eines krachenden Tackles nicht zu unterschätzen.

So kam es, dass Baltimore die Super Bowl erreichte trotz einer herzlich unterdurchschnittlichen Offensive. Während der Angriff regelmäßig stotterte und einmal fünf Spiele lang keinen einzigen Touchdown zustande brachte, ließ die Verteidigung in den 16 Spielen der regulären Saison insgesamt nur 165 Punkte zu – so wenige wie kein Team jemals zuvor.

Der Erfolg der Ravens aber ist kein Einzelfall. Während im letzten Jahr mit den St. Louis Rams das womöglich beste Offensivteam aller Zeiten die Super Bowl gewann, standen im diesjährigen Viertelfinale sechs Mannschaften mit überdurchschnittlichen Verteidigungsreihen. Auch der morgige Gegner, die New York Giants, baut auf Defensive. Der New Yorker Angriff ist zwar an guten Tagen in der Lage, eine Menge Punkte zu machen, aber häufiger sind jene Tage, an denen nichts läuft.

So muss man kein großer Prophet sein, um eine punktarme, aber spannende Super Bowl zu prognostizieren. Und schon vor dem Spiel steht fest, dass endlich einmal wieder die gute alte Trainerweisheit Recht behalten wird, die da besagt, dass man mit Angriff zwar Spiele gewinnt, mit Verteidigung aber Meisterschaften. „Auf die dunkle Seite gezogen“ fühlt sich gar Brian Billick, der, bevor er als Chefcoach zu den Ravens kam, als Offensivgenie galt: „Nichts kann mich mehr überraschen an der Art, wie wir gewinnen. Hauptsache, wir gewinnen.“ THOMAS WINKLER