Rau: Bei der Genetik Nazis nicht vergessen

In der Gedenkstunde für NS-Opfer warnt Rau vor gewissenloser Forschung. Adresse: Gen-Enthusiasten im Kanzleramt

BERLIN taz ■ Der Festredner weiß selbst um die Schwierigkeit, zum Dritten Reich noch Erhellendes zu sagen. „Wer ist noch nicht danach gefragt worden, warum das, was man doch längst wisse, ständig wiederholt werden müsse?“, fragte Bundespräsident Johannes Rau gestern bei der alljährlichen Gedenkveranstaltung für die Opfer der NS-Herrschaft.

Doch Raus diesjähriger Rede im Bundestag ist Aufmerksamkeit sicher: Ohne die Biotechnologie wörtlich zu nennen, warnte der Präsident davor, an den Grundlagen menschlichen Lebens zu forschen und dabei zu vergessen, wohin Forschung am Menschen im Dritten Reich führte. Als „ein Steinwurf ins Wasser“ sei die Rede gedacht, sagen die Berater des Präsidenten. Wenn der Wurf gelingt, könnte er Kreise bis ins Kanzleramt ziehen.

Dort sitzt mit Gerhard Schröder ein zunehmend eifriger Verfechter der Genforschung. Im Dezember beschwor Schröder die Gefahr, Deutschland könne „den Anschluss an eine Spitzen- und Schlüsseltechnologie des 21. Jahrhunderts verlieren“. Diesen Monat warnte er vor „einem Bündnis zwischen Fortschrittsfeindlichkeit und konservativem Fundamentalismus“.

Rau beharrte dagegen gestern auf einer Ethik-Debatte: „Wer das als Behinderung der Wissenschaft kritisiert oder allein der Wissenschaft überlassen will, der verwechselt die Aufgaben von Wissenschaft und Politik.“ Zu lange habe man das Dritte Reich als eine rückwärts gerichtete Epoche betrachtet, meinte der Präsident. Sie sei vielmehr „ein Irrweg der Moderne“ gewesen, angetrieben von einer „biologistischen Utopie“: Forscher seien froh gewesen, ohne moralische Fesseln ein neues Menschenbild durchzusetzen. „Wissenschaft und Ideologie war die Überzeugung gemeinsam, dass man alles machen dürfe, was möglich ist – wenn es nur nützt.“ Diese Erinnerung sieht er als Warnung davor, ethische Maßstäbe zu verrücken.

Den direkten Vergleich zwischen der modernen Biotechnologie und der NS-Forschung hatte Rau bereits in einer Rede in der Evangelischen Akademie in Tutzing gezogen. Sogar unaufgeregte Denker kämen zu dem Schluss, so der Präsident damals, „manches, was durch die moderne Medizin möglich wird, etwa die vorgeburtliche Selektion, sei der mögliche Weg in den individuellen Faschismus“. Im Bundestag geht er nicht ganz so weit. „Man darf den Tag nicht missbrauchen“, sagen seine Berater, die aber natürlich wissen, dass der NS-Gedenktag Raus Anstoß zu einer Moraldebatte besonderes Gewicht verschafft. Die Züchtungsphantasien der NS-Forscher, so Rau schon in Tutzing, seien schließlich ebenfalls „in hochseriösen, akademischen Komissionen und Institutionen vorgedacht worden“.

Die neue Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) dürfte Raus Worte mit Unbehagen aufnehmen. Sie hat bereits einen wirtschaftsfreundlicheren Kurs bei der Genforschung in Aussicht gestellt – eine Abkehr von der Politik ihrer Vorgängerin Andrea Fischer. Gestern im Bundestag zwang das Protokoll den Kanzler und seine Ministerin allerdings erst mal zu höflichem Beifall. PATRIK SCHWARZ