Randgebiete der Erinnerung

Die harte Schule der „Titanic“: Max Goldt dürfte mit „Der Krapfen auf dem Sims“ zum Kolumnen-Klassiker werden. Nebenbei veröffentlicht er mit dem Zeichner Stephan Katz Bilderwitze im Internet. Jetzt ist er auf Lesetour und sorgt dafür, dass beim Signieren seines Buchs nichts durcheinander geht

von HARALD FRICKE

Zwei schmale Treppen sind vor der Bühne im Berliner Ensemble aufgebaut. Das war der Wunsch von Max Goldt. Auf der Treppe am rechten Rand kann das Publikum zu ihm an den Tisch kommen und sich das Buch signieren lassen, aus dem er eineinhalb Stunden vorgelesen hat; danach können die Leute links wieder abgehen und Richtung Ausgang verschwinden. So kommt nichts durcheinander. Fünf Minuten später stehen gut siebzig Max-Goldt-Leser mit dem neuen Band „Der Krapfen auf dem Sims“ in der Hand an. Eine Schlange, kein Haufen, und manchmal zu zweit, weil Goldt auch gerne paarweise gelesen wird. Mehr Männer als Frauen, ganz klar, und mehr Anzüge als Jeans-Lederjacke-Kombinationen.

Die Leserschaft ist älter geworden, aber beständig geblieben. Siebenhundert waren es im BE. Der Theatersaal wäre sicher ausverkauft gewesen, hätte nicht Einar Schleef dort zur Zeit Proben für sein neues Stück, bei dem die erste Reihe aus Gründen der Inszenierung frei bleiben muss. Deshalb wurden diese Plätze vom Computer, der die Kasse steuert, generell gesperrt. Goldt hat sich in der Pause über den Fehler informiert, die Situation bleibt dennoch abwegig: Wo wird schon eine kurze Geschichte über Leute, die in der ersten Reihe sitzen, vorgelesen, ohne dass diese Reihe auch besetzt ist?

Dabei liegt Goldt gar nichts an einer solchen Pointe, für ihn sind die leeren Stühle kein Wink mit der Wirklichkeit, die sich in den Text einschleicht, um ihn lustig zu brechen, sondern einfach verschenkter Sitzraum. Schließlich hätten dort Schwerhörige platziert werden können, oder Männer von kleinem Wuchs. Vielleicht wären sie sogar von den angeschickerten Homos, die in besagter Goldt-Geschichte eine Rolle spielen, gefragt worden, ob bei ihnen alles so klein ist. Vielleicht wären es auch nur Normalgroße gewesen. Die fragt, wie Goldt weiß, allerdings keiner: „Ist bei dir alles so mittel?“ Vielleicht hätte aber auch der Verleger Alexander Fest, der neuerdings Goldts Bücher herausgibt, bei voller Belegung vorne gesessen. Und der wäre dann bestimmt von einem frechen Homo gefragt worden: „Ist bei dir alles so fest?“ Aber nein, man soll keine Namenswitze machen.

Wenn er über sich selbst spricht, klingt Goldt weniger grotesk: „Der ideale Autor wäre ja eine Mischung aus Ernst Jünger und Robert Walser, also der berühmte kalte Blick des ersten und die Kindgebliebenheit des anderen. Ich maße mir nicht an, diese Kombination zu verkörpern, wäre allerdings auch nicht beleidigt, wenn jemand so etwas über mich schreiben würde.“ Das sind ziemlich steile Klippen für einen „Humorschriftsteller“ (Gustav Seibt). Überhaupt ist das Interview, das Goldt der Berliner Zeitung zum Start seiner aktuellen Lesetour gegeben hat, von einer seltsamen Liebe zur Hochkultur geprägt. Gestern noch bei Titanic für Kolumnen und Schabernack zuständig – heute schon reif für das Literaturarchiv in Marburg. „Ich nahm eher das Heitere in Kauf“, resümiert er, und dass es mit einem richtigen Roman noch dauern wird bei Goldt, weil seine Ansprüche „extrem hoch“ sind: „Thomas Mann, Italo Svevo, irgend so was.“

Bislang ging der Wunsch nach Anerkennung vor allem mit seiner gewaltigen Abneigung gegen Fit-for-Fun-Fernsehen und Massenunterhaltung zusammen. Deshalb mag Goldt auch Leute nicht, die in seinen Lesungen lediglich gut ablachen und Teil einer Humorbewegung sein wollen, ohne auf die Feinheiten des rasant gesprochenen und doch mit Bedacht geschriebenen Textes zu achten. Als er für den „Raben“ einen Band über „Verweigerung“ kompilieren durfte, handelte sein eigener Beitrag vom Argwohn angesichts der Medien, die Literatur stets nur dem Mainstream einzugemeinden versuchen. Seine Wut richtete sich auf die von ihm so genannten Junk-Journalisten: „Unter ihrer Elendigkeit, ihrem Wissen, dass sie letztlich doch nur das Altpapier von übermorgen produzieren, heimlich leidend, zerren sie alles, was eventuell ein wenig herausragt, auf ihre eigene Durchschnittlichkeit herunter.“ Das sind klare Fronten in einer Zeit, in der sich Benjamin von Stuckrad-Barre bei Allegra und Stern ordentlich was fürs Häuschen in Bangkok dazuverdient.

Gleichwohl ist Goldt nicht der einzige Autor auf dem Feld der Lach- und Sachgeschichten, der seiner Klassikerwerdung harrt. Auch Robert Gernhardt, Eckhard Henscheid oder Gerhard Henschel werden mittlerweile, wenn schon nicht für Literaturnobelpreise, so doch für Ehrenring- und Stadtschlüsselträgerposten vorgeschlagen. Statt im Namen Ingeborg Bachmanns bekommen sie ihre Auszeichnungen eben zu Ehren von Erich Kästner oder Brecht. Und wenn Olav Westphalen nicht gerade mit Marcus Weimer Rattelschneck-Comics zeichnet, stellt er in New York Minimal Art aus. Das ist die harte Schule der Titanic.

Für das neue Dandytum zwischen Ausgehtipps und Herrenboutique ist Goldts Einstellung zu Pop jedenfalls viel zu diffizil. Ständig gibt es Brüche: Mit „Foyer des Arts“ nahm er 1983 bereits Neue-Deutsche-Welle-Parodien auf, in denen Weltkriegswitwen über „Scheinasylanten“ mäkelten. Als die Witwen in Rostock-Lichtenhagen dann Baseballmützen trugen, klangen Goldts „Fichtenkreuzschnäbel“ aber plötzlich mehr nach Schubert als nach Polit oder sonstwelchen Schlagern. Und mit Stephan Winkler arbeitet er immerhin seit drei Jahren an untanzbarer Elektronik, zu der man früher Frickelmusik gesagt hätte. Nebenher nimmt Goldt dauernd Hörbücher auf, die, wie er freundlich auf Anfrage im Fax schreibt, „für die Buchbranche heute eine Art Promotion-Tool, so wie die Remixe in der Popindustrie“ sind. Außerdem hat er als Duo mit dem Zeichner Stephan Katz drei Comicbände bei Jochen Enterprise herausgebracht, seit kurzem sind die Bildwitze auch im Internet zu besichtigen (www.katzundgoldt.de).

All diese Unternehmungen sind gegenläufig zur großen Erzählung. Das ist trotz der Liebe zu den Bildungskanons der Väter ein Verzicht auf Etikette, der bei Goldt gut zum Inhalt passt: Warum sollten Mauerfall und Wiedervereinigung in monumentalen Werken abgebildet werden, wenn sich die Realität nach 89 eher in kleinen Beobachtungen widergespiegelt hat? In Goldts Titanic-Kolumne fand der 9. November damals ohne Helmut Kohl statt, dafür waren in Berlin Busse „der Münchner Stadtwerke, Zielangabe ,Münchner Freiheit‘ “ unterwegs. Und wozu vom Beischlaf als Metapher für deutsch-deutsche Verhältnisse schreiben, wenn doch seit Jahren auf allen privaten Fernsehkanälen unentwegt über Sex gequatscht wird? Dann schon lieber daheim Apfelkuchen backen oder in Brandenburg Kuchenstände besuchen, „mit der Aufschrift: 8 Jahre PDS, 6 Jahre Kuchenstand der PDS“.

Auf solchen Reisen setzt sich Goldt ins Randgebiet der Erinnerung ab, in der Nation, Staat und Geschichte bloß exotische Begriffe sind, zu denen die Gebrauchsanweisung fehlt. Zugleich findet er hier eine Sprache, die der veränderten Sachlage gerecht wird. Während andere Autoren aus ihrer Biografielosigkeit ganze Generationen auf Bonanzarädern basteln, entlädt sich bei Goldt das Wissen, an den Zeitläuften unbeteiligt zu sein, im ständigen Zwang zur Distinktion. Denn wo Marke draufsteht, ist auch Haltung drin. Natürlich liegt er dabei mit einem Text über die Leute in der ersten Reihe richtig: Die Mitte von Berlin ist nicht interessant, weil sich dort Touristen, junge Kreative und all die anderen Gerhard Schröders über historisch vermintes Gelände von Galerie zu Galerie schieben. Sondern wegen der Ostpfützen, die aus den Sechzigerjahren stammen könnten, „als es auch im Westen noch Ostpfützen gab“. Das aufschimmernde Grau soll bei Goldt bleiben, was es ist: das Gegenteil von bunt, die Mischung aller Farben.

Vermutlich liegt in der Verkehrung bis zur Deckungsgleichheit die Schönheit der Texte. Das Echtheitssiegel, das man den scheinbar wie im Fluge aufgeschnappten Minimelodramen so gerne attestiert, steht im Widerspruch zur sprachlichen Bearbeitung des Materials. Alltag bei Goldt ist Ornament: strategisch gewendet und artifiziell, da das Leben von professionellen Alltagsschreibern ohnehin längst mit hochfahrenden Bildern aufgehübscht worden ist. Genau in diesem Zustand nimmt Goldt die entstellten Dinge zur Hand, schüttelt ein bisschen, damit der falsche Glitter abfällt, und stellt sie zurück ins Regal. Deshalb mag er Sarkasmus, der für ihn „das Resultat trotziger Formulierungskunst ist, die über einen spontanen Zorn auf ein Meinungsallerlei hinweghilft“. Mit Humor ist diese Herangehensweise eher schlecht umschrieben, weil dadurch all die Freude am Zufall und an der Kalkulation nur wieder im Kalauer preisgegeben werden. Besser schon wäre Goldt unter Autoren wie Boris Vian oder Raymond Queneau aufgehoben, die sich fantastische Morde ausdenken und im nächsten Moment fantastische Cocktails. Das ist keine große Geste, hat aber eine angenehme Wirkung: Es geht um das Gespür für „stilvolle Zurückhaltung“, mit der sich Goldt an der Wirklichkeit abarbeitet – nicht als Jäger auf der Pirsch, eher wie ein Zoobesucher, der geduldig am Käfig wartet, bis sich der vom Andrang des Publikums verschreckte Koalabär ihm einmal zuwendet. Falls er es nicht tut, muss man eben zum Affengehege. Die gucken nämlich immer.